Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Blues › Ich höre gerade … Blues! › Antwort auf: Ich höre gerade … Blues!
@zoji
Ich habe zwar ein paar Sachen von Holiday und Simone, bin aber weit vom Expertentum entfernt (das gilt eigentlich für ausnahmslos alle Bereiche des Lebens). Bei Simone lese ich gerne mit, könnte aber nichts substantielles beitragen. Weißt Du, ob die metaphorische Umsetzung eine rein künstlerische Entscheidung ist, oder ob sie sich auch gegen eine direktere Sprache taylorscher Art entschieden haben, weil ihnen sonst enormer Ärger bis zur Lebensgefahr gedroht hätte?
Über den White African bin ich natürlich auch schon gestolpert. Habe jetzt noch einmal nachgeschaut, keine direkte Erklärung im Booklet und jedenfalls auf diesem Album nimmt wohl auch kein Song direkt Bezug darauf. Meine eigene Spekulation (und mehr als das ist es nicht) sieht ungefähr folgendermaßen aus: Ich habe ´mal gelesen (sorry, Quelle längst vergessen), dass sich ein kleiner Teil der afroamerikanischen Community in Abhängigkeit von der Tiefe des Hauttons noch einmal selbst bzw. gegenseitig mit Rassismus überzieht (oder überzog?). Wenn das stimmt, würde „White African“ eventuell jemanden bezeichnen, der gleich von zwei Seiten ausgegrenzt und diskriminiert wird und mindestens verbale Gewalt erfährt. Vielleicht sogar nicht nur als von Taylor aufgesetzte Bezeichnung, sondern als allgemein bekannter Begriff? Taylor selbst sieht für mich so aus, als ob er nicht ausschließlich afrikanisches Erbe in sich trägt. Und um die Ecke gedacht: Im Booklet gibt es das Covermotiv inkl. Titel noch einmal als Negativ zu sehen. Die inversen Lichtverhältnisse lassen sich vielleicht symbolisch interpretieren. Er selbst ist der White African. Ergibt das für Dich Sinn? Kann auch eminenter Quatsch sein, ich bin mir ja nicht einmal des Wahrheitsgehaltes der Prämisse, auf der meine Spekulation beruht, wirklich sicher.
(…)
Mehr Fragen als Antworten, aber s.o. unter Expertentum, ich bin zum Lernen hier.
Ich bin nur aus Neugier hier.
Über Strange Fruit kann man wohl ganze Doktorarbeiten schreiben. Ich bin aber weder Historiker noch Kulturwissenschaftler und weiß nur wenig darüber. Text und Musik stammen nicht von Billie Holiday sondern von Lewis Allen. Die Wirkung dieses Liedes wird wohl auch durch den Aufbau und die Verwendung von Bildern und Metaphern erreicht. Dadurch bekommt es eine besondere Dramatik und Tiefe. Das setzt sich erst im Kopfe des Hörers zusammen.
Ob das jetzt eine künstlerische Entscheidung war (wovon ich ausgehe, denn der Text ist Literatur und seine Wirkung ist gerade auch deswegen erschütternd) oder nicht, wollte Columbia Strange Fruit nicht veröffentlichen, weil man negative Reaktionen befürchtete. Das Thema Lynchmord war damals wohl noch zu heiß. Wie diese Reaktionen ausgesehen hätten? Geschäftspartner und Kunden springen ab? Scheiben werden eingeschmissen? Plattenläden in Brand gesteckt? Personal aufgeknüpft? Holiday spielte Strange Fruit dann 1939 für das kleine Label Commodore ein. Ich denke, es kommen verschiedene Faktoren zusammen, die dieses Lied zu einem Fanal machten und später fast zur Folklore werden ließen.
Eigentlich unerfreulich, dass Otis Taylor und andere immer noch und immer wieder Anlass haben, den Finger in die Wunde zu legen. Und paradox, dass diese üble Situation immer wieder zu toller Musik führt.
Aber ich bin bloß ein mittelalter weißer deutscher Mann, der das nur aus der Distanz beobachten kann.
Auf den Fotos von Otis Taylor, die ich kenne, hätte ich unter seinem Hut und hinter seinem Bart auch nicht unbedingt einen Afro-Amerikaner vermutet. Aber das ist wohl auch eher eine sozio-kulturelle als eine genetische Kategorie. Ich vermute daher mal, dass Deine Spekulation zutreffen könnte.
Edit: Auch wenn es kein Blues ist, kann man das ja mal hier posten:
zuletzt geändert von friedrich--
“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.” (From the movie Sinners by Ryan Coogler)