Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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pfingstluemmel
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In Gilles Marchands zweitem Spielfilm nach eigenem Script (in Kollaboration mit Dominik Moll, der auch die Regieassistenz übernahm) spürt der Regisseur einer Idee nach, die ihn in einem Einkaufscenter überkam, als er einen jungen Mann tief versunken beim Spielen eines Onlinegaming-Demos beobachtete, das heißt, ihn und seinen Avatar auf dem Bildschirm. Wäre es nicht interessant, die Geschichte beider Ebenen zusammenzuführen oder sich kreuzen zu lassen?
Schnell wird klar, wie wenig Wert Marchand auf verwirrende Plottwists und diffuse Realitätsebenen legt, sondern seine Geschichte geradlinig anlegt, um online und offline ein wenig in die Welt der Heranwachsenden einzutauchen. Dabei klammert er Eltern und andere Überdreißigjährige so gut aus, wie es geht, um sich auf die Mehrdeutigkeiten und Schattenseiten der Adoleszenz zu konzentrieren, etwa den Selbstmord, der eine der häufigsten Todesursachen für Menschen in diesem Alter darstellt.
Das fulminante Sonnenlicht des südfranzösischen Hochsommers sorgt für die hyperrealistisch anmutenden Impressionen der „echten“ Welt, während das Online-Game namens Black Hole seinem Titel alle Ehre macht und mit seinen dunklen Wolkenkratzerschluchten eher einem Zerrbild von New York gleicht. So penibel wie diese beiden Welten lassen sich die Vorkommnisse und Gefühle in L’autre monde (Originaltitel) nicht aufteilen, auch wenn der Fokus deutlich auf dem liegt, was der Zuschauer gemeinhin als seine eigene Lebenswelt erkennen wird.
Gibt sich Black Heaven (deutscher Verleihtitel) zu Beginn noch mysteriös, stellt sich im Verlauf der Handlung immer deutlicher heraus, dass keine weiteren Ambitionen bestehen, als einen professionell fotografierten Mysterythriller abzuliefern, der seine selbstgewählten Motive nicht mehr als nötig vertiefen will, um schließlich in der emotionalen Auflösung zu glänzen. Ein sekundenschneller Abgleich und Abbruch der Romantik, hin zum Blitzportrait eines alleingelassenen und ratlosen Teenagers, der sich einer undurchdringlichen Welt gegenüber sieht, setzt einen starken Schlusspunkt, welcher fast vergessen macht, wie wenig Neues eigentlich passiert.
Nicht die Ideen heben Black Heaven über den Standard, sondern die gewissenhafte Ausführung, die meist ein Quäntchen mehr Liebe zum Detail erkennen lässt als bei ähnlichen Produktionen. So startet der Film mit dem selbstmörderischen Fall von einem Hochhaus der Online-Welt, der in den Wellen der Mittelmeerküste endet. No mind blown, aber ein ansprechender Auftakt.
Zudem zeigt Gilles Marchand ein gutes Händchen beim Casting seiner Darsteller, deren Chemie untereinander stimmt, so dass auch die Vignetten jugendlichen Lebens wie man sie aus zig anderen Filmen kennt (Liebe, Strand, Party, Drogen) nicht schal wirken, sondern zum aufmerksamen und empathischen Verfolgen des Allzubekannten einladen. Aus diesen Szenen zieht der Film viel seiner Kraft, welche die Storyline nicht unbedingt entwickeln kann. Ihr Sog bleibt beschränkt, vor allem weil das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Geschwistern Sam und Vince eher stiefmütterlich behandelt wird, bis es schließlich die Ereignisse des Finales bedingt. Andererseits fand ich es überraschend erfrischend, mal wieder einen Film zu sehen, der keine Irritation im Raum stehen lässt und in dessen letzten Szenen vielleicht nicht alle Probleme gelöst sind, die Dinge jedoch aufgeklärt wurden und die Geschichte zu Ende erzählt ist. Ganz klassisch, auch wenn man das zu Beginn nicht vermutet hätte. Apropos klassisch: Der Suizid der Liebenden, die Geschwisterbeziehung und andere Konstellationen des Drehbuchs verweisen auf die Tragödien, aus denen Hollywood seit jeher seine Dramen bastelt, deshalb war ich wiederum überrascht, nicht mehr von diesem Topoi-Recycling angeödet zu sein. Vieles in Black Heaven fällt einfach passend an seinen Platz.
Dazu gehört auch die Musik der französischen Gruppe M83, die den Großteil des Soundtracks bestreitet und mit ihrem elektronischen Dream Pop dezent den Gemütslagen des Films dient.
L’autre monde hält sich damit zurück, uns in eine andere Welt zu führen, sondern widmet sich lieber den Konflikten und Situationen, die wir als aus „unserer“ Umgebung entstammend wahrnehmen. Er gönnt sich außerdem den Luxus, die Nervtöter des Alltags außen vor zu lassen, um das zu beobachten, was als junger Mensch die Tage (und Nächte) ausmachte. Und immer dann, wenn die Stimmungen so dickflüssig werden, dass einem mood piece über die Lippen kommen könnte, verschwindet der Thrillerplot lange genug aus der Sicht, um die Schwarzromantik von Black Beach genießen zu können, wo die Drinks nicht mit einem Schirmchen, sondern einem Schuss Todessehnsucht serviert werden.

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Come with uncle and hear all proper! Hear angel trumpets and devil trombones. You are invited.