Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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pfingstluemmel
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Auf dem Höhepunkt von True Love Ways verliert Tom ganz wörtlich seinen Kopf, gleichwohl er ihm im Laufe der Handlung nicht das erste Mal abhanden kommt. Er bezieht die beunruhigenden Träume seiner Freundin Séverine, gespielt von Anna Hausburg, auf seine Männlichkeit und lässt sich auf einen besonders hirnrissigen Pakt mit dem Teufel ein. Sein von herkömmlichen Rollenbildern geprägtes Verständnis einer Beziehung, befeuert durch ein weit verbreitetes Gemütsgebrechen namens Eifersucht, manövriert ihn in eine Sackgasse, die in den Schatten die mörderischen Konsequenzen bereithält, welche er im Testosteronrausch übersieht.
Der Moment der Entdeckung seiner Enthauptung ist die Verpflanzung des Grand Guignol in die Kulissen des Bauerntheaters, das sich hierzulande Fernsehen schimpft. Bemüht werden Grenzen überschritten, die in internationalen Produktionen schon lange keine Grenzen mehr sind, wenn Séverine den abgetrennten Kopf ihres Freundes französisch küsst, um sich anschließend über ihn zu erbrechen.
Der frankophile Grundton des Films spiegelt sich nicht nur im Namen der Hauptfigur wider, sondern auch in ihrem Aussehen (bis auf die Ponyfransen der Nouvelle Vague nachempfunden) und schlägt sich besonders in Fotografie und Ausstattung nieder, welche beide gierig die Luft des neuen französischen Kinos der frühen 60er Jahre atmen. Es bleibt nicht bei einer ehrfurchtsvollen Kopie. Regisseur Mathieu Seiler kennt sicher Roman Polanskis ins Verdrehte und Finstere weitergesponnene Nouvelle-Vague-Variante Repulsion und bedient sich deren schizoider Doppelbödigkeit; manchmal in klar erkennbaren Zitaten, meist nur als Schwingung innerhalb der Szenerien.
Als Schweizer mag es für ihn Alltag sein, wenn Französisches auf Deutsches trifft, in True Love Ways sorgt dieser Umstand jedoch für Misstöne. Während Details wie Smartphones einen Gegenwartsbezug herstellen, scheint ein Großteil der filmischen Welt aus Artefakten der 50er und 60er Jahre zu bestehen. Besonders Fahrzeuge, aber auch Kleidung und ein Rollstuhl entstammen sichtbar (und spürbar) dieser Zeit. Es kollidieren also eine stilisierte, Frankreich-grundierte Vergangenheit, festgehalten in geschickt montiertem und kunstvoll abgelichtetem Schwarz-Weiß, mit den Darstellungen des deutschen Fernsehkrimis.
Die Filmographien der beteiligten Schauspieler lassen Schwermut aufkommen, sieht man die undankbaren TV-Jobs, die zum Überleben eines Darstellers in Deutschland an der Tagesordnung sind. Und: Vielleicht kriegt man den Schauspieler aus dem Fernsehen, aber das Fernsehen nie aus dem Schauspieler heraus. Soll heißen: Unter allen Darstellungen flimmert und wölbt sich der Krimi-Ungeist, bereit zum Sprung, um True Love Ways zu übernehmen – vor allem in Dialogen wird dies äußerst deutlich. Wenn Tom zu Beginn des Films ein Angebot erhält, das er aufgrund seiner Situation nicht wirklich ablehnen möchte, degradiert der TV-Einfluss diese Ungeheuerlichkeit auf das Intrigenniveau einer Soap. Zu unserem Glück ist Seilers Film wohltuend dialogarm.
Die Betonung der Vergangenheit findet sich auch im augenscheinlichsten Thema des Filmes wieder. Der Mythos „Snuff“, vor einigen Jahrzehnten noch das (behauptete) Freizeitvergnügen vom Leben gelangweilter oder perverser Millionäre, blüht auf und entsteht in Manier der alten Schule mit ordentlicher Filmausrüstung, anstatt digitaler Technik, in einem exquisit eingerichteten, herrschaftlichen Haus abseits der Stadt. Nach dem live gestreamten Moscheen-Massaker in Christchurch oder den auf Facebook verbreiteten Enthauptungen des IS und der mexikanischen Drogenkartelle ein Anachronismus und gleichzeitig ein Paradoxon, da eine äußerst artifizielle Darstellung von angeblich realer Gewalt stattfindet (leider in wenig überzeugenden Effektarbeiten), deren Existenz bis heute nicht bewiesen werden konnte.
Am Stärksten wirkt True Love Ways, wenn er sich auf seine Bilder und den schaurig-schönen Soundtrack (komponiert von Beat Solér und in einer Szene unter Verwendung des Buddy-Holly-Klassikers True Love Ways) verlässt und die Bewegung der Figuren innerhalb der Kadrierung zum Erliegen kommt, so dass der Zuschauer Zeit hat, sich für die Details der Szene, die Lichtsetzung und die Aufnahmewinkel zu begeistern. Auf fotografischer Ebene spielt True Love Ways im Minutentakt unbestreitbare Stärken aus (auch wenn nicht alle Einstellungen gelingen, manches wirkt etwas steril und dennoch filmisch verbraucht), die aber durch Dialoge und Interaktion der Charaktere unterminiert werden. Sobald mehr als zwei Darsteller auf der Leinwand agieren (vor allem, wenn sie sprachlich kommunizieren), ertappe ich mich beim Versuch, um diese „herum“ sehen zu wollen. Vielleicht wäre hier ein Bild-für-Bild-Remake mit internationalem Kino-Cast, wie geschehen bei Michael Hanekes Funny Games, keine schlechte Idee.
Doch auch in der vorliegenden Fassung zeigt sich True Love Ways größtenteils als eigenständiger Dreh von Ideen des fordernden und aufregenden Kinos der Vergangenheit, in den Bildern stilsicher (dank Kameramann Oliver Geissler), in der Musik erhaben. Über darstellerische Schwächen und missglückte transgressive Momente kann man getrost hinwegsehen.

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Come with uncle and hear all proper! Hear angel trumpets and devil trombones. You are invited.