Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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pfingstluemmel
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Die stets leicht flackernden Züge der Rama-Familie, mit ihrem Stich ins Psychopathische, illustrieren vorbildlich die Gruselkabinette einer heilen Welt, wie sie den Vorstellungen von Werbegrafikern und statistisch abgesicherten Erkenntnissen zur Mehrheitsgesellschaft entsprungen sind. Jens Lien, Regisseur von Anderland, kitzelt die kafkaesken Schrecken aus den Oberflächen des IKEA-Katalogs und bildet die Wunschvorstellung der Normalos als durchgehend reizloses, aber psychologisch verheerendes Gelingen des Gewöhnlichen ab, nach Abzug aller Eventualitäten, von Spontanem und Unplanbarem.
Der ins Groteske vergrößerte und verlängerte Abschiedskuss in der U-Bahn-Station, zu Beginn des Films, läutet den Selbstmord der Hauptfigur Andreas ein. Nach dem Sprung vor die U-Bahn, erwacht er einige Zeit später (dem glattrasierten Thirtysomething ist ein beeindruckender Vollbart gewachsen) als einziger Passagier eines Reisebusses, der ihn vor einer Tankstelle inmitten einer Wüstenei absetzt. “Velkommen” prangt dort auf einem Banner, man erwartet ihn schon. Kurz das Gefährt gewechselt und nach einigen weiteren Kilometern weist man ihn in sein neues Leben ein: Wohnung, Job, Klamotten – alles liegt an seinem Platz für ihn bereit. Wir wissen nicht aus welcher Art Lebensüberdruss Andreas handelte, er gibt dem Neuanfang jedoch eine Chance, rasiert sich glatt und fügt sich in seinen neuen Job (die Krönung des Mittelmaßes: Buchhaltung in einer Baufirma), nimmt Kontakt zu den Kollegen auf und schließt sich deren Aktivitäten an: Mittagessen, nach Arbeitsschluss ein Barbesuch.
Dort kommen ihm auf dem Herrenklo erste Zweifel: Obwohl er seit Stunden trinkt, wird er nicht betrunken; ein weiterer Gast, von dem nur seine schwarzweißen Schuhe unter einer Toilettentür hervorschauen, beklagt sich über das fade Leben: Nichts schmeckt, nichts macht Spaß. Keine Erregung, keine Sensation – nur die abgesicherte Existenz im ewig gleichen Trott.
Spätestens hier musste ich an die Songzeile “Heaven is a place where nothing ever happens” von den Talking Heads denken. Ist Andreas wirklich im Himmel gelandet? Oder doch in der Hölle, in seiner Eigenschaft als Selbstmörder? Vielleicht befindet er sich auch noch auf dem Weg dorthin: Wie auch immer die fegefeuerartige Etappe heißen mag, er findet bald heraus, dass er sie nicht durch erneuten Suizid verlassen kann. Dies geschieht in einer beindruckend getricksten Sequenz, die das Unter-die-Räder-Kommen schmerzhaft verdeutlicht. Erfreulicherweise hat Regisseur Jens Lien kein Problem mit der Darstellung von blutigen Exzessen, auch wenn er diese humorvoll bis ins Groteske steigert und den restlichen Ton des Filmes eher ruhig (wenn auch paranoid) anlegt.
Die Farben wirken zurückgenommen und weichgezeichnet, fast wie in Watte gepackt, trotzdem lasten die Schatten und drückenden Rahmungen eines Traums auf der Szenerie. Lien verlässt sich nicht auf eine plump invertierte Welt des IKEA-Gefühls, sondern zieht die Merkwürdigkeiten und Depressionen aus den Nischen und Ritzen des weit verbreiteten Einrichtungskatalogs.
Andreas versucht sich als Normalo, geht sogar eine stabile Beziehung ein, die ihm aber schnell vorführt, in eine Falle geraten zu sein, zwischen Menschen, die wenig fühlen und erfahren, dafür umso emsiger vorgegebenen Plänen, Spielregeln und Konventionen folgen. Eine Affaire, eine neue Liebschaft, soll ihn daraus befreien. Anstatt halbwegs glücklich zu werden, muss er die Bindungsunfähig- und extreme Oberflächlichkeit seiner Mitmenschen noch deutlicher als zuvor erkennen.
Grund zur Hoffnung bietet ein kleines Loch in der Wand, versteckt hinter einem Gemälde, das er im Keller des Mannes entdeckt, der ihm in den schwarzweißen Schuhen durch die Klotür die Fadheit seiner Existenz klagte. Aus dem Loch entweichen Melodien und Gerüche, manchmal auch ein Kinderlachen. Beide Männer sitzen oft stundenlang gebannt davor. Bewusst bricht Lien hier den “Einrichtungsstil” und taucht aus perfekt aufgeräumten Bürotürmen und Hochglanzwohnzimmern in ein staubiges Kellerambiente ab, das merkwürdig erleuchtet wie ein in sich geschlossenes Universum wirkt, ein Refugium unter der Erde mit eigenem Sternenhimmel.
Schließlich treibt die Sehnsucht Andreas dazu, das Loch zu vergrößern, einen Durchbruch zu schlagen in diese vermeintlich bessere Welt. Es kommt, wie es kommen muss: Eine normierte Gesellschaft wird immer eine Gesellschaft der Petzen sein, geht es doch um die Versicherung des eigenen Status durch die Anzeige des Außer- und Ungewöhnlichen. Andreas und sein Kumpel werden von den seltsamen grauen Glatzköpfen in Kastenautos verhaftet, die sich schon zuvor um alle Unwägbarkeiten kümmerten, unter anderem auch um Kranke und Verletzte, die schnellstmöglich aus dem öffentlichen Bild entfernt wurden. Während sein Kumpel katzbuckelnd jede Schuld von sich weist und nur zu froh ist, Andreas als eigentlichen Rädelsführer und Anstifter zu denunzieren, bleibt dieser stumm und gerät in die Verbannung. Seinen servilen Kumpel lässt man laufen.
Man bringt Andreas schnurstracks zur Tankstelle im Nirgendwo und verfrachtet ihn dort in das Gepäckfach des Busses, mit dem er die Rückreise antritt. Als er sich aus dem Bus befreien kann, bleibt er in einer Eiswüste zurück.
Anderland (Originaltitel: Den brysomme Mannen) gelingt das Kunststück, eine surreale Satire zu sein, die sich der Gesellschaft der Angepassten mit schneidendem Humor nähert, und zugleich eine kleine Sammlung an depressiven Stimmungen aufzufächern, die blitzschnell von zu Boden schmetternden Erkenntnissen in die Höhen neuer Hoffnungen aufsteigen können. Visuell in sich geschlossen, musikalisch treffend untermalt (u.a. mit der Musik Edvard Griegs) und mitfühlend erzählt, schlägt Regisseur Jens Lien einen Bogen von den Gestimmtheiten Kafkas, über den absurden Humor Dupieuxs bis zur lakonischen Lebensbetrachtung der Coen-Brüder.

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Come with uncle and hear all proper! Hear angel trumpets and devil trombones. You are invited.