Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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pfingstluemmel
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Der geschmolzene Schnee des Winters gibt die Überreste von Albruns Kindheit frei, eine Kindheit, die sie im Schatten ihrer Mutter verbrachte, selbst eine Außenseiterin des dörflichen Lebens in den Alpen. Während die beruhigend weiße Decke der Natur zurückgezogen wird, deren schützende und lärmschluckende Schicht in der Sonne glitzert, entdeckt man Knochen, Schädel und Splitter, die sich zu Mosaiken des Missbrauchs zusammenfügen lassen. Im Kleinen die übergriffigen Handlungen zwischen Mutter und Tochter, das elende Eltern-Kind-Verhältnis seit Anbeginn der Zeit, eine Ebene darüber, im Größer- und Gröberen, die Drohungen der Dorfgemeinschaft gegenüber der Alleinerziehenden und ihrem Nachwuchs.
Lukas Feigelfelds Langfilmdebüt Hagazussa – Der Hexenfluch erschien fast zum selben Zeitpunkt wie The VVitch in der Kinolandschaft, auch wenn er produktionsbedingt länger in der Mache war (mal wieder ging es um das liebe Geld, die vermaledeite Filmförderung in Deutschland und ein Happy End durch Crowdfunding), einen Vergleich wird er sich also mit dem Hexenalbtraum aus Übersee gefallen lassen müssen. Der augenfälligste Unterschied sind die Bemühungen von The VVitch den Film übernatürlich aufzulösen, etwas, das Feigelfeld in Hagazussa vermeidet: Die außergewöhnlichen psychischen Zustände seiner Hauptfigur sind in der filmischen Wirklichkeit verankert und haben rationale Auslöser. Während die Bilder manchmal aus dem klar gegliederten Korsett der Naturaufnahmen, eingerahmt durch die Alpen, delirierend in Horrorvisionen ausbrechen, bleiben die eigentlichen Vorgänge nachvollziehbar. Der Wahnsinn der Einsamkeit wurzelt in familiärem Übel, bedingt durch die unbarmherzigen Einwirkungen der dörflichen Gemeinschaft, der Gesellschaft. Auf ein verkohltes Skelett reduziert, dreht sich hier alles um die Rolle von alleinerziehenden Außenseitern im Verhältnis zur argwöhnischen Mehrheitsgesellschaft, die ihre Sündenböcke gerne zur Herde vermehren möchte und nach geeigneten Opfern Ausschau hält.
Im zweiten Teil des Films, welcher sich insgesamt streng in die Abschnitte “Schatten”, “Horn”, “Blut” und “Feuer” einteilt, nimmt Albrun selbst die Mutterrolle ein, ihr wird (wie schon ihrer Mutter) ein Mann verwehrt, das Verhältnis zu den Dörflern mutet immer noch gespannt an, aber es herrscht Tauwetter. Albrun scheint eine Freundin, eine Verbündete zu finden, wäre da nicht dieses aufgesetzte, gezwungene Lächeln gleich den Tränen der Krokodile.
Bis zu diesem Zeitpunkt verlässt sich der Regisseur weitgehend auf die Naturaufnahmen seiner Kamerafrau, zuerst die bergige Schneelandschaft, später der alpine Frühling. Nach und nach schleichen sich beunruhigende Momente ein, der Wald entwickelt ein Eigenleben, er starrt nicht nur zurück, er starrt in die Hauptfigur hinein, womöglich um gedankliche Samen zu pflanzen. Das erinnert manchmal an Antichrist, Lars von Triers zum Skandal feuilletonisierten Film, verfällt aber nie in dessen Hysterie. Das angemessen träge voranschreitende Tempo verhindert dies. Von den Drone-Klängen der griechischen Gruppe MMMD untermalt, mehren sich nun Eindrücke aus dem Innern der Hauptfigur, in den Wald projiziert und manchmal verstärkt von ihm zurückgeworfen. Den ästhetischen Höhepunkt erreicht Hagazussa im Anschluss an einen Pilztrip, wenn sich der Infantizid in einem Tümpel zum Abbild des Kosmos ausweitet. Die Einheit des Scores von MMMD und der Bilder von Mariel Baqueiro wirkt so stark und schlüssig, dass ich mich zumindest im deutschen Film kaum an ähnliche berückende Momente erinnern kann. Diese mehrminütige Sequenz stellt definitiv das Highlight in Hagazussa dar und leitet das Finale ein: “Feuer”.
Wo die Übermacht des Dorfes stets spürbar bleibt, selbst wenn es kaum abgebildet wird, kann sich der Einzelne auf normalem Weg nicht aus dessen Fesseln befreien. Er muss die Gesetze und Grenzen der Mehrheit übertreten und sich schließlich selbst reinigen. Hagazussa kommt also zu einem eher gewöhnlichen Ende, wenn auch in ungewöhnlichen Bildern. Er liefert durch die Symbiose der einfach von “außen” gefilmten Vorgänge mit Darstellungen des Inneren ein Amalgam, das zumindest oberflächlich einleuchtend erklärt, wie der Glaube an Hexen funktionieren kann und welche gesellschaftlichen Umstände ihn entstehen lassen. Der Dämon, der hinter den sicheren Begrenzungen des Dorfes auf die Bewohner wartet (das Wort “Hagazussa” kommt aus dem Althochdeutschen und bezeichnet eine “Zaunreiterin”, später wurde daraus “Hexe”), entstammt einfach ihrer eigenen Borniertheit, ihrer beschränkten Sicht auf die Welt, ihrem Hang zum Simplifizieren. Nicht umsonst legt Feigelfeld in seinem fast dialogfreien Film der zwielichtigen Bekannten Albruns die Abscheu gegenüber “Juden und Heiden” in den Mund.
Hagazussa bleibt über gut 100 Minuten ein bildgewaltiger, aber stark entschleunigter Mahlstrom von Vignetten zur Gewalt der Gesellschaft gegenüber dem Individuum, unterlegt mit einem perfekten Drone-Soundtrack, der die visuellen Eindrücke auf musikalischer Ebene ins Monolithische überhöhen kann. Definitiv ein Film für die große Leinwand, definitiv ein Soundtrack, um ihn mit dem ganzen Körper zu spüren. Definitiv ein Hoffnungsschimmer für den deutschen Film.

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