Antwort auf: Freejazz

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gypsy-tail-wind
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thelonica

gypsy-tail-windDen Brückenschlag zu Bach fand ich an sich gut – aber er funktioniert natürlich trotzdem nicht. „Spiritual“ hat ja erstmal nichts mit organisierter Religion zu tun, oder?

Würde ich so nicht sagen. Mary Lou Williams konvertierte zum Katholizismus. Nach 1952 machte sie noch eine ziemliche Entwicklung durch, was man ja auch an ihrem Werk erkennen kann. Es gibt noch genügend andere Beispiele, die Zusammenarbeit von Duke Ellington mit Mahalia Jackson, die spätere Trilogie (Concert of Sacred Music, Second Sacred Concert, Third Sacred Concert). Malachi Favors hat auch irgendwann Mahalia Jackson erwähnt. Die Zusammenhänge sind schon komplex, vielleicht nicht immer leicht zu verstehen. Aus heutiger Sicht weiß man ja, wie wichtig Interreligiöser Dialog eigentlich sein kann. John Coltrane hat etwas gemacht, was bestimmt weit darüber hinaus geht.

Hm, das sind jetzt für mich aber allesamt Beispiele für religiös geprägten Jazz, die gerade kein Spiritual Jazz sind. Da wird mit viel Kunstsinn und -wille eher an der Bach-Schiene angeknüpft. Ich finde das auch alles interessant und teilweise gut oder sehr gut – aber wirklich ein ganz anderes Thema. Ich bin versucht zu sagen, dass die eine oder andere Dancing-Session von Ellington aus den frühen Sechzigern, wenn die Band fast auseinanderfliegt und die Hälfte der Musiker vermutlich ordentlich Spiritus getankt haben, viel mehr vom Geist des Spiritual Jazz in sich trägt, als wenn sie die ambitionierten Grosswerke aufführte.

Aber klar, es kann sein, dass meine Aussage zur „organisierten Religion“ sich nicht auf die USA übertragen lässt, weil dort ja praktisch alle Christen in Kirchen gehen, die hier irgendwas zwischen Freikirchen und Sekten wären bzw. sind, falls sie existieren. Ich habe da überhaupt nicht den Durchblick, aber es gibt ja jene, die Musik überhaupt nicht tolerierten und andere, bei denen Musik sehr wichtig war. (Dazu las ich gestern zufällig wieder mal was, Walt Dickerson über sich und seinen Jugendfreund John Dennis in ihren frühen Jahren in Philadelphia: „He was allowed to create when he came to our house; he could not create the music that he desired to create in his house because of the restrictions leveled by his, quote [finger quotes], “religious” parents. My parents were religious also, but they loved music. My mother was a pianist; my father sang in a choir. And my mother always encouraged John and myself, and he would play for her and she enjoyed it tremendously.“ – Quelle: http://darkforcesswing.blogspot.com/2007/06/in-full-1-walt-dickerson.html)

Aber selbst wenn die Aussage für die USA nicht gelten kann, gibt es kein Pendant bei uns (bzw. diejenigen, die es versuchen, gründen ja gerade Gospelchöre und machen eine Art whitewashed und „christian“ – ist ja ein Genre in den USA – Rock/Soul, eben mit prominentem Gesang … mehr als das habe ich jedenfalls nicht mitgekriegt [davon aber mal eine Überdosis, ich liess mich mit 14 oder 15 mal überreden, zu so einer Gospelchor-Probe zu gehen, bei der praktisch nur Freikirchler waren, die mich gleich quasi eucharistisch auffressen wollten – nie wieder!], und das hat mit Bach dann auch wieder wenig Berührungspunkte).

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