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Coltrane, Oktober 1960 also – ich höre wie üblich die Sessions, die Alben sind bei mir zwar im Hinterkopf, ich kannte und schätzte sie fast alles schon, als die Box erschien … aber für mich ist das ein klarer Fall von „the sum is greater than its parts“. Wenn ich das alles halbwegs chronologisch durchhöre, bleibt mir noch jedes Mal die Spucke weg und ich staune über den kreativen Ausbruch und Durchbruch, den Coltrane und seine Mitstreiter – McCoy Tyner (p), Steve Davis (b) und Elvin Jones (d) – hier zustande brachten.
Am 21. Oktober wurde der „Village Blues“ aufgenommen, zwei Takes, der erste auf „Coltrane Jazz“ (das Alternativcover oben stammt gemäss Dicogs auch Chile, 1965), der zweite erstmals in der Box. Und die veröffentlichte Version war wohl das erste, was das Publikum damals vom Coltrane Quartet zu hören kriegte. Für mich eine hypnotische Performance, über dem einfachen Bass-Lick baut Tyner versetzt die Akkorde auf, Coltrane stösst dazu, während Jones bereits für diesen in alle Richtungen auskragenden Swing sorgt. Über „My Favorite Things“, das zweite und auch bereits letzte Stück dieser Session müssen wir glaub ich nicht weiter reden. Gerade 10 Minuten gesucht in diesem Arme-Leute-Forum und den alten Post doch noch gefunden, ich zitiere ihn besser, denn die ersten Suchtreffer waren andere Links dorthin, die alle tot sind dank der superben Migration). Und siehe da, in Frankreich gab es noch Alternativcover (hier 1961, weiter unten 1972 – aus den frühen Siebzigern gab es in Frankreich auch für die anderen Alben hier ähnliche Cover, aber die sind jetzt nicht so super, dass ich sie hier alle einbetten wollte):
gypsy-tail-wind
Ich hab jetzt im Booklet der Atlantic Box nachgeschaut, da gibt’s eine Beschreibung (auch von Lewis Porter übrigens) von „My Favorite Things“, wie Coltrane es aufgesetzt hat, ich tippe das mal ab, das sollte dann auch technisch völlig unbedarften Hörern die Möglichkeit bieten, das zu verfolgen (das ist übrigens keineswegs abfällig gemeint! Ganz im Gegenteil! Ich bewundere Leute, die rein intuitiv all diese grosse und oft von aussen schwierig klingende Musik schätzen können!)The Song’s structure is A-A-B. Both of the A sections use the „raindrops and roses“ tune and emphasize happy things. The B part is the first mention of negative experiences — „When the dog bites“ — but its point is that the good things help us to overcome the bad. Coltrane plays the two A parts at the beginning of his version. Only at the very end of the performance does he play the B part. In the meantime, he stretches out the sense of time in several ways. he has the rhythm section begin with a vamp in E minor, and he comes in at his leisure. After the first A they switch to an E major vamp, and he solos briefly over this. Then it’s back to E minor for the second A. At the end of this one, the E minor vamp returns, and the solos begin. Each solo follows a plan: The soloist, Coltrane or Tyner, plays over the E minor vamp as long as he wants, and then moves on cue to the E major vamp. The cue is a return to the theme. You can hear Tyner return to the theme in the middle of his solo, which is his cue to the others, and then the vamp becomes major. Coltrane does the same during his solo. And during every live version of this piece each soloist, including Eric Dolphy, does the same. When the B section finally enters at the end, we feel that we have been through an entire world of music.
~ Lewis Porter, „The Atlantic Years“, liner notes to „John Coltrane – The Heavyweight Champion. The Complete Atlantic Recordings“, p. 19-20Also kurz die Solo-Routine:
– E Moll so lange, wie der Solist will
– Wechsel in E Dur, angezeigt dadurch, dass der Solist das Thema aufgreiftSowas mag nicht völlig neu gewesen sein, aber es ist doch eine komplett von der Norm abweichende Spielweise! Und auch etwas komplett anderes im Vergleich mit den Songs auf „Giant Steps“ (und „Coltrane Jazz“), die als abgewandelte (harmonisch komplexere, dichtere) Varianten der konventionellen Song-Formen zu verstehen sind. Die Entwicklung der Variation dieser Strukturen beginnt früh, im Bebop nahm sie wohl den grössten Entwicklungsschritt, als Parker, Gillespie etc. ihre eigenen Melodien über abgewandelte harmonische Strukturen von Standards (DER Klassiker war natürlich „I Got Rhythm“, aber auch andere wie „Embraceable You“ wurden genutzt – die Praxis findet man wohl auch schon früher). Die Bopper haben dann oft die Akkorde verdichtet und verändert (man kann Akkorde nach gewissen Regeln „umbauen“, reharmonisieren etc… das übersteigt im Detail dann auch meine Kenntnisse). Nur wenige (etwa Ellington, Monk, Mingus) haben völlig eigentständige Musik geschrieben, die nicht stark an Stücke aus dem Great American Songbook angelehnt war (Mingus‘ „Re-Incarnation of a Love-Bird“ ist ein besonders komplexes Beispiel, oder Monks „Criss-Cross“, wo auch die übliche Anzahl Takte aufgebrochen wird). Coltrane hat „seine“ Changes gefunden und auf „Giant Steps“ verewigt – noch einmal Lewis Porter:
These recordings [Giant Steps, Countdown, 26-2, Exotica, Fifth House, Satellite, Central Park West, But Not for Me] epitomize one major concern of Coltrane’s at this time, that of developing the ability to successfully negotiate the fastest moving chord progressions.
~ Lewis Porter, ibid, p. 14Ich wollte eigentlich nur ganz kurz Antwort geben… aber ich hoffe, diese Ausführungen helfen, zu verstehen, wovon ich schrieb!
Von hier: http://forum.rollingstone.de/foren/topic/chronological-coltrane/page/9/#post-7658437
Die Session am 24. Oktober beginnt dann mit dem bezaubernden „Central Park West“ (auf „Coltrane’s Sound“ erschienen), wo noch einmal eine Variante der „Giant Steps“-Changes zum Einsatz kommt, aber dieses Mal als Ballade bzw. eigentlich Walking-Ballade. Coltrane präsentiert am Sopransax das Thema zum Einstieg und zum Ausklang, dazwischen soliert Tyner kurz aber wunderschön, er findet genau die richtigen Töne in der Begleitung wie im Solo, Das Stück zählt jedenfalls zu meinen liebsten Coltrane-Balladen aus dieser Zeit – und eigene Balladen hat er ja eh nicht gerade viele geschrieben.
Dann betreten wir mit „Mr. Syms“ – wieder am Sopransax – das Blues-Territorium. Mir gefällt der Groove hier sehr gut, aber ich schätze ja bekanntlich diese ganzen Aufnahmen und hatte auch nie ein Problem mit „Plays the Blues“ (das ich dennoch als schwächstes der drei Alben höre). Es folgt die Atlantic-Version von „Exotica“, als „Untitled Original“ herausgebracht auf „The Coltrane Legacy“ in den Siebzigern – und auf den ersten Blick kaum als das Roulette-Stück zu erkennen. Der Orgelpunkt wird vom Bass noch schöner herausgestrichen, Davis bleibt auch fast durchgängig im halben Tempo. Das Trio kriegt das nun besser als echte Gruppenperformance hin. Tyner spielt ein weiteres tolles Solo, Läufe, Blockakkorde, Jones stompt durch, ist aber klanglich für meinen Geschmack (generell bei Atlantic) etwas zu leicht aufgenommen.
„Summertime“ (My Favorite Things) treibt dem Stück die Beschaulichkeit aus, die so vielen Versionen innewohnt, Coltrane spielt es zupackend, mit etwas gepresstem Ton, aber sein Solo wirkt fokussiert und konzentriert – worin ich einen Unterschied zu den Prestige-Aufnahmen und auch den Mitschnitten der Tour mit Davis höre, wo er viel ausschweifender „forscht“. Das hier hat Richtung und wird zielstrebig angegangen. Zudem kommt hier auch die Rhythmusgruppe wieder wunderbar zur Geltung. Was da dauernd alles passier, die Wechsel im Bass vom Orgelpunkt zum Walking, Jones‘ verschiedenste Akzente, das so enorm reiche und doch nie überwältigende Klavier von Tyner – brilliant! Dass direkt danach der nächste Standard angegangen wurde, „Body and Soul“ (Coltrane’s Sound) leuchtet ein – und dass Coltrane dieses Tenoristen-Meisterstück ganz anders angeht als seine Vorgänger, überrascht wenig. Recht schroff wirkt seine Version, und doch total schön. Coltrane hat die Changes angepasst, wie „Summertime“ ist das Stück auf den ersten Blick kaum zu erkennen, es ist ja sonst eins, das spätestens beim zweiten Klavierakkord des Intros klar ist (Trivia: Dexter Gordon verwendete später die Coltrane-Changes, z.B. auf „Homecoming“ zu hören). Faszinierend ist hier einmal mehr Tyner, der mit kleinen Verschiebungen in seinen Akkorden eine Art Anti-Solo spielt, bevor Coltrane einsteigt. Der etwas längere/langsamere Alternate Take erschien in den Siebzigern auf „Alternate Takes“ und ist weniger fokussiert, dünkt mich, dafür verspielter, offener. Und weil der Kontext ja derselbe wie bei „Summertime“ ist, würde es mich schon interessieren, wie das bei @vorgarten ankommt!
Danach geht es mit „Mr. Knight“ (Coltrane Plays the Blues) zurück ins Blues-Territorium. Wieder ein Orgelpunkt, der durch eine kurze Walking-Passage unterbrochen wird. Tyners Akkorde bestimmen den Charakter des Stückes, aber Coltrane spielt das „grosse“ Solo – und er tut dies wie in manchen der Blues-Stücke dieser Sessions gelöst und locker, ohne den Drang, in jedem Solo alles zu sagen, wie er ihn auf der Tour mit Davis im Frühling teils noch ins Extreme getrieben hatte. Das, dünkt mich, ist hier eine neue Qualität, die gerade in den Blues-Stücken schön zur Geltung kommt und eine neue Reife in Coltranes Spiel signalisiert – vielleicht vergleichbar dem Plateau, das er in seiner Zeit bein Monk erreichte, und dann wieder den Studio-Session von 1964.
Von „Blues to Elvin“ (Coltrane Plays the Blues) gibt es in der Box dann einen neuen Alternate Take, den ersten, der elf Minuten dauert und noch besser ist als der Master Take, finde ich. Hier kommt Jones‘ ganzes Gewicht (trotz der „leichten“ Aufnahme) wunderbar zur Geltung, Davis spielt jeweils nur einen Auftakt auf den ersten Schlag des Taktes, bloss in Takten 9 und 10 wechselt er jeweils in Viertel. Tyners Klavier klingt inzwischen vertraut, aber wie gut seine Akkorde passen, wie wichtig sie für da Bandgefüge sind, wird im Vergleich etwa mit dem eher generischen „comping“ von John Maher bei der Draper-Session deutlich, die ich vorhin hörte. Die Art von „diskursivem“ (vielleicht ist es auch nur ein Selbstgespräch) Blues, mag ich unglaublich gerne – und Coltrane beweist hier für mich seine Meisterschaft darin so sehr wie in „Equinox“, das er zwei Tage später aufnahm. Tyner soliert dann selber lange, Coltrane steigt wieder ein, den Ausklang macht dann das Trio … und werkt dabei ein wenig planlos. Für den Master Take (Take Nr. 4), der nicht ganz acht Minuten dauert, wir das Tempo deutlich verlangsamt – und das Klangbild auf der Studio-Aufnahme ist insgesamt weniger gut, finde ich, als auf dem „reference tape“, von dem der Alternate Take stammt. Dafür klingt Coltranes Tenorsaxophon präsenter, prägnanter. Sein Solo ist wohl noch besser, das Tempo ist jedenfalls toll und hindert Jones nicht dran, über weite Strecken ähnlich wuchtig aufzuspielen wie im Alternate Take. Ein gutes Wort möchte ich hier auch für Steve Davis einlegen, den abgesehen von diesen Aufnahmen ja mehr oder weniger unbekannten Bassisten. Tyners Solo – im gleichen Kanal wie dei Drums (der Bass ist anderen Kanal, wo auch Coltrane ist, wenn er spiel) – ist ebenfalls eine Art Kondensat, kurz aber sehr prägnant… und ich merke gerade, dass ich meine Meinung vielleicht revidieren muss, was die Güte angeht. Das hier ist jedenfalls umwerfend, aber vermutlich gefällt mir die Stimmung im Alternate Take einfach etwas besser (und ja, über die Produktion sagt das viel aus – ich habe kein grundsätzliches Problem damit, aber ich glaube eine wirklich umwerfend klingende Atlantic-Produktion habe ich nie gehört … viel umwerfende Musik in mehr oder minder sachdienlichem Sound, klar, das schon!). Auf der Bonus-CD in der Box ist der Rest der Takes zu hören, ein kurzer false start und dann noch ein Alternate Take, mit 6 Minuten der kürzeste.
Drei weitere Blues folgten, die alle auf „Coltrane Plays the Blues“ erschienen: „Mr. Day“, „Blues to You“ (in der Box auch dank dem aufgetauchten Session Reel in drei Takes, der letzte wurde zum Master) und „Blues to Bechet“. „Mr. Day“ baut auf einem Bass-Lick auf, Jones spielt dazu einen unregelmässig punktierten, raschen Swing, Coltrane präsentiert das Thema am Tenorsax, es kommen wohl wieder leicht angepasste Changes zum Einsatz, die Tyner wunderbar ausschmückt. Auch hier, im schnellen Tempo, bewegt sich Coltrane wie mir scheint mit einer Sicherheit, die er bei den Konzerten mit Davis im März/April noch nicht hatte. Er gestaltet zudem (das war ja v.a. in „Harmonique“ von „Coltrane Jazz“ deutlich zu hören) seinen Ton immer bewusster (in Nerdsprache hiesse das wohl: er setzt manchmal Mikrotöne ein, nutzt dazu auch hörbar alternative Fingersätze, was ja z.B. Cannonball Adderley auch gern tat, ebenfalls um nicht ganz reine Töne zu erzeugen). Das Schema ist das gleiche, Coltrane-Tyner-Coltrane, der Pianist steuert auch in der Begleitung diese typischen rollenden Akkorde bei, geschickt phrasiert und rhythmisiert, so dass ich mit dem Bass-Ostinato (das auch wieder kurzzeitig in 4-to-the-bar ausschert) und den Drums von Jones ein dicht gewobener Klangteppich ergibt. In „Blues to You“ und den beiden folgenden letzten Stücken der Session setzt Tyner aus – Vorboten von „Chasin‘ the Trane“, Coltrane setzt zu einem freien Fluss an, einem faszinierenden Monolog, in dem er die gleichmässige Phrasierung hie und da aufzubrechen beginnt. Das Klangbild ist in Takes 1 und 2 dann wieder viel angenehmer als durch die künstliche Separierung bei den späteren Stereo-Abmischungen (weshalb bei CD-Reissues fast nur auf Stereo-Versionen zurückgegriffen wird, begreife ich nicht … bzw. doch, ich begreife es angesichts des Fetisches, den leider viele Audiophile haben … ich kenne das allerdings eher aus der Klassik, dort gibt es ja tatsächlich Leute, die nichts aus der Mono-Ära überhaupt erst in Erwägung ziehen, weil mono einfach gar nicht geht – sinnvoller wird es dadurch aber überhaupt nicht). Und klar, die Möglichkeit, ein solches in der Anlage völlig offenes Stück bei seinem Entstehen zu verfolgen, finde ich faszinierend – auch wieder ein Fall, in dem ich die drei Takes mühelos am Stück hören kann – dieses dauert so einfach dreimal so lang. Und klar: inflections und dreckige Phrasierungen galore (besonders im zweiten Take) – mikrotonaler Jazz . Der Mastertake ist dann wohl tatsächlich der beste – und für mich einer der Höhepunkte der drei Sessions vom Oktober 1960 und das grosse Highlight von „Coltrane Plays the Blues“. Doch ein Blues folgt noch, „Mr. Bechet“, und auch dieses Stück mag ich total gerne, es ist natürlich eine Hommage an Sidney Bechet, den grossen Meister und den wichtigsten Vertreter des Sopransaxophons im Jazz, zumindest vor Steve Lacy. Wie sich Coltrane sich hier locker aber entschlussen durch die Blues-Changes schlängelt, ein über weite Strecken lineares Solo bläst (Lester Young lässt grössen), die Band dabei aber nie den Groove aus den Augen verliert – und dann ist einfach Schluss, wer braucht schon immer die Themenrekapitulation? Klasse!
„Satellite“ (Coltrane’s Sound) ist dann die letzte Nummer vom 24. Oktober 1960 – hier kommen wieder die „Giant Steps“-Akkorde zum Einsatz, doch in den Händen der neuen Band klingt das natürlich anders, Jones bricht den Beat auf, den Davis am Bass durchzieht – mit eingestreuten Orgelpunkt-Passagen. Das ist einmal mehr, dünkt mich, ein Vorbote von Dingen, die später kommen sollten, aber zugleich, durch die inzwischen vertrauten Changes, ein Blick zurück zu „Giant Steps“ – und damit in gewisser Hinsicht auch eine perfekte Verkörperung der kurzen aber bedeutsamen Atlantic-Phase.
Bei der letzten Session wurden sechs Stücke eingespielt, drei Standards und drei Originals von Coltrane. Los geht es überraschend mit einer Ballade, Coltranes wunderschönen Version von Cole Porters „Everytime We Say Goodbye“. Wie in „Central Park West“ umrahmt er mit dem Thema ein kurzes Solo von Tyner, der einmal mehr ein grossartiges Solo spielt, luftig und leicht, aber auch mit ein paar sich überschlagenden Kaskaden und am Ende ein paar heftigen Akkorden und Akzenten – ganz grosse Klasse! Das Stück bildete den Schluss der ersten Seite von „My Favorite Things“, nach dem Titelstück – und das passt natürlich wie die Faust aufs Auge, denn in Porters Lyrics gibt es auch diese Zeilen: „There’s no love song finer / But how strange the change from major to minor / Every time we say goodbye“ – Coltrane liefert also quasi noch die Bedienungsanleitung zu „My Favorite Things“ nach.
In „26-2“ (das zweite Stück vom 26. Oktober) kommen noch einmal die „Giant Steps“-Changes zum Einsatz – ich vermute, zum allerletzten Mal? Coltrane soliert wieder nur über Bass und Drums, und Jones greift hier wieder ordentlich zu – die späteren Duo-Passagen kann man sich hier schon ausmalen. Im Solo ist Coltrane aber nicht so inspiriert wie davor in „Blues to You“, scheint mir – kein Zufall, dass das hier ein Outtake war, auch wenn sich das Stück nicht zu verbergen braucht. Tyner spielt hier auch ein langes Solo, das zunächst nur mit ganz sparsamen Akzenten der linken Hand auskommt – als wolle er den Ideenfluss des Tenorsaxophons fortspinnen. Eine neue Variante (die es bei Coltrane auch später nur selten gab, glaub ich) ist dann, dass dieser nach dem Klaviersolo am Sopransaxophon wieder zurückkehrt und noch ein kurzes Solo spielt, bevor das Stück ohne Themenrekapitulation schliesst.
„But Not for Me“ fand sich nach „Summertime“ am Schluss von „My Favorite Things“. Auch hier verwendet Coltrane Changes, die das Stück fast unkenntlich machen. Was dahinter die Überlegung war, verstehe ich hie nicht so genau, bei „Body and Soul“ finde ich es irgendwie klar (er war halt Tenorsaxophonist, und jeder selbige mit Selbstrespekt hatte damals irgendwann „Body and Soul“ vorzulegen, nachdem Coleman Hawkins das Stück in den Dreissigern zur Messlatte gemacht hatte). Hier spielt Coltrane im Solo dann für kurze Momente auch wieder Sheets of Sound, und irgendwie klingen auch die Akzente von Tyner teils fast wie früher Red Garland – insofern kann ich hier einen Rückbezug auf die Prestige-Zeit viel eher erkennen.
Sind Stücke Nr. 2 und Nr. 3 von dieser Session nicht die grossen Highlights vom Oktober 1960, so ging es in der zweiten Hälfte aber nochmal ganz anders weiter. Die beiden Originals, „Liberia“ und „Equinox“, zählen zu Coltranes schönsten, der Standard, „The Night Has a Thousand Eyes“, reiht sich für meine Ohren unter die diesbezüglichen Grosstaten ein („I Want to Talk About You“ oder zwei Tage früher „Body and Soul“). Alle drei Stücke erschienen auf „Coltrane’s Sound“, der Platte mit dem seltsamen (viele sagen: hässlichen) Cover. „Liberia“ ist natürlich vom Titel her bereits ein Statement (es folgte ja bei Atlantic noch „Dahomey“ Dance“, während bei Impulse! parallel dazu schon „Africa“ in Arbeit war). Los geht es im Rubato, dann wird das Tempo hochgedreht. Coltrane ist sofort in der Zone, Tyner füttert ihn mit Akkorden. Dass der Groove bald in einen 4/4 fällt, macht nichts, natürlich wird dieser durch Orgelpunkte aufgebrochen, in denen Jones raffiniert seine Becken einsetzt, gerne in der Mitte geschlagen, wo sie wie Glocken klingen. Tyner blüht hier natürlich ebenfalls auf – es ist jedenfalls eine Freude, zu beobachten, wie nach getaner Arbeit (am 24. Oktober mit den ganzen Blues-Nummern und am 26. dann noch mit der letzten Ballade) das Quartett jetzt so richtig aufblüht. Ich habe das hier schon oft geschrieben, aber diese Musik klingt unglaublich frisch, sie ist zwar tief in der Tradition verwurzelt, aber präsentiert auch Musiker, die ihre eigenen Stimme gefunden haben und auszubilden beginnen (bei Coltranes Wiedereinstieg gibt es übrigens auch weider eine dieser Phrasen, in denen kein Ton wohltemperiert scheint, direkt bevor das Thema kurz rekapituliert wird). Das ist meisterhafte Musik, ohne Frage!
„The Night Has a Thousand Eyes“ wir über einen Stotterbass, der auf einem Ton verweilt vorgestellt. Jones spielt einen Latin-Beat, Tyner ist hier der Motor, dünkt mich, während Coltrane ziemlich herb und leicht säuerlich das Thema präsentiert. Das Schema mit dem Latin-Beat und dem 4/4-Swing taucht auch in den Soli wieder auf, was dem Stücke eine grosse Kohärenz verleiht. Coltrane wirkt wieder entschlossen, aber ohne jegliche Verbissenheit, er ist einfach nur saugut, um es mal etwas direkt auszudrücken, er frisst die Changes, hat tausend und eine Idee und es könnte auch hier schon, so dünkt es mich, eine Stunde lang weitergehen – bis Davis‘ Finger blutig werden oder Jones einen Krampf kriegt. Tyner steigt aus der Begleitung behutsam in sein Solo ein, bleibt nah am Material des Themas (das hier wohl nicht oder nur wenig reharmonisiert wurde, dünkt mich? Ist kein Stück, mit dem ich super vertraut bin bzw. ev. ist das hier immer meine „default“-Version gewesen d.h. ich erkenne das einfach nicht?). Wahnsinnig gut!
Und noch besser wird es zum Abschluss, mit einem Stück, das seit vielen Jahren zu meinen liebsten überhaupt gehört, „Equinox“. Nach dem Rumpel-Intro stellt das Quartett das Thema vor, eine leicht abgewandelte Bluesform mit einem eingängigen Ostinato, das auch wieder den Blick in eine endlose Ebene öffnet, auf der Coltrane ein überaus packendes Solo bläst. In gewisser Hinsicht scheint Coltrane hier quasi den Blues und die Offenheit von „Flamenco Sketches“ zusammenzubringen. An drei Tagen, dem 21., 24. und 26. Oktober 1960, hat er alles nochmal durchgespielt, Blues, Standards, die „Giant Step“-Changes, hat die Experimente in exotische Gefilde (wie er sie bei Savoy und Prestige besonders mit Harden unternahm, und eben auf „Flamenco Sketches“ mit Miles Davis davor unternahm) ausgeweitet, hat seine Band gefunden, den eigenen Groove, hat nochmal ein paar „Sheets of Sound“ gespielt, und sich zugleich die Tür in die weite Ebene geöffnet, in der er mit einer in sich ruhenden und daher nie hektisch klingenden Wucht die undenkbarsten Ausflüge unternehmen kann – dabei vorwegnehmenend, was er ein Jahr später im Village Vanguard für Impulse aufzeichnete. Drei Tage im Oktober 1960, die quasi als Summe von Coltranes bisherigem Schaffen, aber auch als Ausblick und Vorschau auf das, was in den kommenden Jahren folgen würde, gelten können. Und „Equinox“ ist dabei neben „My Favorite Things“ für mich wohl die perfekte Verkörperung all dessen.
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