Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!

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gypsy-tail-wind
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Das Tripelkonzert (übrigens mit Frang, nicht Faust, und das wäre auch im Mai schon so gewesen, hatte das irgendwie falsch notiert, macht aber für mich wenig unterschied, finde beide super) steht ja auch noch an … und die Tonhalle macht wohl den Saisonstart wieder mit Kurzkonzerten, eins um 18:30 und eins um 20:30, mit teils überlappenden Programmen. Für ein einziges habe ich eine Karte – auch Beethoven, und zwar das „sechste“ Klavierkonzert, also das Arrangement des Violinkonzerts – hören müsste ich das wohl nicht unbedingt, wäre es nicht mit Olli Mustonen, der an sich in der kommenden Saison als „artist in residence“ diverse Auftritte hätte haben sollen … mal schauen, ob es dann auch noch mit mehr klappt! (Um 18:30 gäbe es am gewählten Tag die siebte Symphonie, um 20:30, wenn ich gehe, dann das Klavierkonzert, und beide Male noch ein Stück von Pärt … bei weniger vorsichtigem Vorgehen wäre, wohl Pärt und Klavierkonzert die erste Konzerthälfte gewesen und Nr. 7 dann die zweite).

Jetzt bin ich wieder bei Bach mit Weilerstein, CD mit den Suiten Nr. 2, 4 und 5 – sie bringen zusammen 82:07 auf die Uhr, CD 1 dauert 78:43 – in der Kritik auf Musicweb steht, wie immens die Differenzen zu Casals, Fournier etc. sind – zu einer der Starker-Aufnahmen sage und schreibe 50 Minuten, bei Casals immerhin eine halbe Stunde …

Zu den Goldberg-Variationen, dem Cembalo, wollte ich auch noch schreiben. Ich bin ja nach dem Einstieg übers Klavier und einer anschliessenden längeren Cembalo-Phase inzwischen für alles offen (ähnlich bei Scarlatti), finde aber gerade des Klanges wegen die verschiedenen historischen Ansätze schon höchst faszinierend – und die Obertöne sind dabei wohl das wichtigste Element. Ein anderes ist natürlich die Abwesenheit von Pedalen, das Fehlen eines Sostenuto-Pedals. Sehr schön ist der Artikel, den Mahan Esfahani gerade über seine – in der Corona-Isolation entdeckte – neue Liebe für das Clavichord schrieb, hier ein Absatz daraus:

I bought a clavichord—a tiny rectangle made of English walnut—a few years back, but I was always too busy with the harpsichord to give it my attention. Recently, though, stuck at home and wary of taxing my neighbors’ patience too much, I started playing it and soon fell under its whispered spell. Now that there is no pressure to impress, I spend hours a day with it, particularly in the evenings, and I have begun to see the seductive qualities that may have made it—according to some writers—J. S. Bach’s favorite instrument. Playing it is an intimate act, not just because of its quietness but also because of another feature of its unique mechanism. Once a harpsichord string has been plucked, the job of whoever pressed the key is basically over (until the next note), but a clavichord tangent stays in contact with the string for as long as the key is held down. Your fingers are suddenly responsible for the entire duration of each sound. This delicate responsiveness makes endless shadings and colors possible. If you shake your finger a little on a key, you can even get a vibrato effect, known as Bebung, in German, which was long one of the instrument’s most prized attributes.

https://www.newyorker.com/culture/personal-history/the-whispered-spell-of-the-clavichord

Das ist ein nochmal gewöhnungsbedürftigerer Klang, finde ich … Miklós Spányi hat das Instrument für viele CDs seiner irren Gesamteinspielung der Werke für Klavier solo von CPE Bach verwendet. Es ist kein Instrument, das für Auftritte funktioniert (zu leise), aber für Aufnahmen geht das natürlich schon. Ein Teil des „Problems“ mit Mandolinen und Gitarren im Konzert ist wohl auch, dass sie viel zu laut klingen müssen, die Dynamik flacher wird und höchstens bei kleiner Besetzung im passenden Raum auch ausgekostet werden kann? Ich hatte mich auch gerade darum auf Avital mit dem ZKO gefreut … vielleicht kann ich das in ähnlicher Form irgendwann nachholen, bisher beschränkt sich meine Erfahrung da auf den Gitarristen Pablo Sáinz Villegas mit dem Tonhalle Orchester und diverse Barock-Programme mit Theorbe/Laute usw., und bei ersterem war’s genau so mit der flachen – dauernd lauten – Dynamik, bei letzteren hingegen ist die Erfahrung eher die, dass ich versuche, die Theorbe zu hören, dass mir das aber kaum gelingt bzw. dass ich einen Unterschied höre, wenn sie pausiert, aber sie eben nicht eindeutig erkennen kann, wenn sie dabei ist … es sei denn, ich höre wirklich nur drei oder vier Musiker*innen, dann natürlich schon, aber bei einem Dutzend oder mehr, oder im Orchestergraben in der Oper … noch was, weil ich gerade mal wieder Aufnahmen von Woody Herman nachsteige und eine zu kriegen versuche, bei der Charlie Byrd – der mit Stan Getz „Jazz Samba“ gemacht hat – ein mehrteiliges Stück für akustische Solo-Gitarre mit Big Band spielt … auch ein Tonmeister-Albtraum, zweifellos, aber im Studio geht das schon, live ist die Herausforderung viel grösser).

Aber um nochmal auf die Tasteninstrumente zu kommen: das schöne an den alten Instrumenten ist ja auch die immense Vielfalt. Es gibt die verschiedensten Cembali, von klein und behend bis zu grossen Dingern, die fast schon überwältigen können (zumindest wenn sie im Studio relativ nah aufgenommen werden). Bei den Hammerflügeln ist es ähnlich – die grossen Cembali aus der Spätphase sind ja lauter, können mehr Klangvolumen erzeugen als frühe Hammerklaviere – und wurden daher auch noch relativ lang eingesetzt. Und daneben gibt dann noch Spinette, Virginale, Tangentenflügel … und aus den Hammerflügeln wird dann irgendwann der Steinway D, und auch auf dem Weg dahin gibt es wiederum Instrumente mit wunderbarem Klang (z.B. von Érard order Blüthner). Zum Glück müssen wir nicht darüber befinden, was denn nun richtig sei: sich zu überlegen: „wie würde Bach denn heute auf dem Konzertflügel spielen und dessen Möglichkeiten ausloten?“ oder „wie klang das damals genau, als Rameau seine Pièces de clavecin spielte und wie kriege ich das heute wieder hin?“ – beides ist müssig, die Interpret*innen müssen für sich entscheiden, was sie machen wollen, und wir können aus der ganzen Vielfalt auswählen – und so erleben wir die schönsten Überraschungen und die grössten Irritationen, manchmal alles aufs Mal. Ich stelle es mir jedenfalls unendlich anstrengend vor, dogmatisch durch Leben rennen zu müssen, wenn es um solche Fragen geht, und bin froh und glücklich, die ganze Vielfalt auskosten zu dürfen (dazu gehört dann z.B. auch der hervorragende Haydn am modernen Klavier von Ekaterina Derzhavina oder der ebensolche CPE Bach von Ana-Marija Markovina, die übrigens „nur“ 26 CDs brauchte, Spányi ist bei Vol. 39 und gemäss der BIS-Website ist damit nur noch eine CD ausstehend und dann ist das gigantische Unterfangen geschafft – bei den Konzerten spielt er meist einen Tangentenflügel, manchmal ein Cembalo und selten einen Hammerflügel, bei den Solo-Werken meist ein Clavichord und manchmal eins der anderen drei, am häufigsten ein Cebmalo).

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