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Ach, Avital hätte ich ja noch mit dem ZKO hören sollen in der abgebrochenen Saison … kenne ihn nicht, plante, das Konzert zum Anlass für allfällige weitere Erkundungen zu nehmen. Und die schönen Sommertage wünsche ich Dir auch!
Hier jetzt eine Neuheit aus dem Hause Genuin, mit der Geigerin Judith Ingolfsson:
Da gibt es nicht nur die monumentale Sonate für Violine solo von Artur Schnabel sondern auch gleich noch die kürzere (bei Ingolfsson dauert sie 18:30) von Eduard Erdmann, einem anderen Pianisten aus ungefähr derselben Zeit (14 Jahre jünger, 7 Jahre später verstorben), den ich ebenfalls sehr schätze. Der in Livland geborene Erdmann gehörte zur Gruppe junger Musikstundenten, mit denen Schnabel sich in seiner Zeit in seinen Jahren in Berlin verkehrte, den „vielleicht glücklichsten meines Lebens“, wie er sagte. 1919 bis 1924 war diese Zeit – und die Violinsonate entstand 1919. Judith Ingolfsson schreibt in ihren Liner Notes, das Werk sei „in einem atonalen, frei chromatischen Tonsatz verfasst. […] Die Musik ist tiefgründig, kompromisslos und erschafft ein musikalisches Universum, in welchem die Anforderungen an den Instrumentalisten hinsichtlich Spieltechnik und Klangfarben auf die Spitze getrieben werden. Bemerkenswert sind das Fehlen von Taktstrichen sowie eine Fülle von Vortragsbezeichnungen.“ Uraufgeführt wurde die Sonate von Carl Flesch, dem Schnabel in einem Brief schrieb, dass er seine Musik im Vergleich zu jener von (dem respektierten und bewunderten) Schönberg „Salonmusik“ sei.
Erdmann kam 1914 zum Studium nach Berlin, galt bald als hochbegabt aber exzentrisch und machte sich als Pianist und Komponist einen Namen. Fünf Jahre später kam die australische Geigerin Alma Moodie zum Studium bei Flesch ebenfalls nach Berlin – sie hinterliess leider keine Aufnahmen, war aber auch Thema der jüngsten Folge von „Mon coeur est un violon“, Link weiter oben, der engl. Wikipedia-Eintrag ist relativ umfangreich. Moodie wurde zur Verfechterin zeitgenössischer Musik in Deutschland und spielte 1921 in Berlin die Uraufführung von Erdmanns „Sonate für Violine allein“ mit der Opuszahl 12. Erdmann ist heute vor allem noch als Pianist bekannt (es lohnt, seine Aufnahmen zu suchen, es gab auf CD verschiedene Tahra-Veröffentlichungen, aber auch welche bei Bayer oder Orfeo), verstand sich selbst aber vornehmlich als Komponist (wie bei Schnabel auch gibt es bei cpo ein paar CDs mit seinen Werken). Ingolfsson zitiert am Ende der Liner Notes aus einem Brief Moodies an Flesch: „Gerade mit Erdmann zu arbeiten ist etwas Wunderschönes, nach dem verluderten Aussehen würde man nie darauf kommen, wie peinlich er in seiner Kunst ist […]. Fabelhaft sachlich und ebenso frei von technischen Hemmungen, daß man sich nur ums Werk zu kümmern hat. Sonst ist er ziemlich unmöglich, aber wahnwitzig komisch – ein enfant terrible accompli, stellt die unglaublichsten Sachen hier an […] futtert für zwanzig, wird immer dicker, schwitzt unentwegt – ist aber im Grunde wirklich das, was ich unter wertvoller Mensch verstehe, so absolut klug und grundanständig, daß man nur lachen kann und sich manchmal am Kopf greifen – wie ist eine solche Pflanze nur entstanden?“ – Einen besser pitch kann ich mir eigentlich kaum vorstellen … und über Judith Ingolfssons „musikalische Flaschenpost“, wie sie in den Liner Notes am Schluss schreibt – „Deren Absender: Artur Schnabel und Eduard Erdmann. Datiert: Berlin, 1919–1923“ – freue ich mich wirklich sehr! Umso mehr, als die Erdmann-Sonate auch eine Ersteinspielung zu sein scheint – steht zumindest in dieser Rezension:
https://www.pizzicato.lu/solitare-monolithe-packend-bewaltigt/
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