Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!

#11171157  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,343

Und wo ich vorhin bei der Gambe war, kehre ich doch gleich – teilweise – nochmal dahin zurück. Diese CD packt mich deutlich mehr. Gambenstücke – gespielt von Vittorio Ghielmi mit Luca Pianca an der Erzlaute oder Theorbe – wechseln mit Orchesterstücken (Ghielmi leitet von der Gambe bzw. dem Pardessus de Viole aus das Il Suonar Parlante Orchestra (mit 8 Streichern, Oboe, Fagott, Cembalo und Pauke/Percussion). Darüber, dass Ghielmi sich in den Liner Notes zum Thema Aufführungspraxis in HIP-Kreisen kritisch äussert, hatte ich schon mal geschrieben:

gypsy-tail-wind
Die Liner Notes hat Ghielmi gleich selbst beigesteuert und nimmt damit einen Faden wieder auf, den er anscheinend schon früher zu spinnen anfing: die in den letzten 50 Jahren längst gefestigte Gamben-Spieltradition der HIP-Leute sei für französische Musik falsch, da seien ganz andere Techniken nötig und auch verbürgt, eben nicht nur im schon lange bekannten Pamphlet „Defense de la Basse de Viole“ von Hubert le Blanc aus dem Jahr 1740, sondern auch in Anmerkungen/Spielanweisungen in den Noten diverser Stücke von Marais, aus der Hand von Schülern des Meisters, aber auch in Drucken. Solche Autographen erforscht Ghielmi am Mozarteum in Salzburg und kommt zum Schluss, dass die Spielanweisungen sich bei angepasster Spielweise (ein viel leichteres Bogenspiel, er vergleicht es mit dem Anschlagen von Saiten mit einem Plektrum, wobei der Bogen eben quasi zum Plektrum werde) sich fast von selbst ergeben/umsetzten lassen. Ich will jetzt gewiss nicht behaupten, dass ich das alles so genau hören könnte, ich bin bei weitem kein Gambenspezialist, werde wegen Ghielmi auch sicher nicht all die Sachen von der älteren Generation in die Tonne werfen – aber ich finde solche Entwicklungen schon sehr interessant. Und die Zeit ist ja längst reif, um die Erkenntnisse von Harnoncourt, Leonhardt, Brüggen, den Kuijkens etc. auch als eine Etappe einer Entwicklung zu historisieren und ihren teils heiligen Ernst inkl. Absolutheitsanspruch nicht mehr so Ernst zu nehmen … was ja nicht mit einer Entwertung einhergehen muss (auch nicht soll), eigentlich ganz im Gegenteil: sie haben längst ihren Platz, sind aber halt auch nicht aus der Welt und drum Teil des grossen Kontinuums, in das auch Mendelssohn oder Edwin Fischer gehören, wenn es z.B. um Bachs Musik geht. Und der „Bach-Richter“ natürlich auch, obwohl ich den Graf Johann Nikolaus gerade im Grab schäumen höre, wenn ich dies tippe.

Damals schrieb ich zu der CD auch „völlig unspektakuläre Musik“, schob aber auch gleich eine Bemerkung nach, dass das keinesfalls gerecht sei … und heute höre ich das auch vollkommen anders – eher: brillante, ja fast schon spektakuläre Musik! Schieben wir es auf den Koller, den ich Ende März und Anfang April, nach Krankenhaus und in den ersten Corona-Wochen hatte …

Inzwischen sind auch ein paar Rezensionen online zu finden:
https://www.rondomagazin.de/kritiken.php?kritiken_id=11080
http://www.bernhard-schrammek.de/rezensionen/le-secret-de-monsieur-marais/

Sowie das Transkript einer DLF-Sendung:
https://www.deutschlandfunk.de/marin-marais-neu-entdeckt-barocke-codes.727.de.html?dram:article_id=476893

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba