Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!

#11171023  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
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Ich glaube, zu der CD schulde ich soulpope immer noch einen Bericht? Ich steige nicht ganz durch, gemäss Booklet ist der zweite Teil des „Trattado“ integral zu hören (ein Buch über die Arten der Verzierungen beim Gambenspiel mit vielen Notenbeispielen), aber ich verstehe nicht, ob der zweite Teil eben der einzige mit Notenbeispielen bzw. mit gesamten Stücken ist, denn aus der Liste hier sind alle Stücke auf der CD zu finden, alle Recercadas, heisst das, und gerade bei dem Thema von Ortiz schwingt da die Wortherkunft mit, in den frz. Liner Notes „ricercares comme ‚essais-recherches'“ (in der dt. Übersetzung fehlt dieser Einschub seltsamerweise, aber die Liner Notes sind ja bei alpha bekanntlich allzu oft die Achillessehne):
https://es.wikipedia.org/wiki/Tratado_de_glosas
„Glosar“ heisst übrigens „diminuieren“, im Tratado werden Regeln für die Kadenzen festgehalten und zudem Beispiele gegeben, wie diese in andere Stimmlagen transponiert werden können. Das ganze ist also auch eine Art Hilfestellung für Improvisationen.

Bruno Cocset und Guido Balestracci wechseln sich an der Hauptstimme ab (Dessus de Viole, Cocset auch Ténor), und wenn sie jeweils nicht solieren, stossen sie zum Ensemble, in dem Emmanuel Jacques und Richard Myron Bassgamben spielen, Maude Gratton eine wunderbare Tischorgel, Bertrand Cuiller ein italienisches Cembalo und Xavier Diaz-Latorre die Vihuela und die Renaissance Gitarre. Zwischen dei Gamben-Ricercars sind einzelne Stücke von Luis Milán und Antonio de Cabezón – Soli oder Duos ohne die Gamben, sowie die Transkription eines Stückes von Tomás Luis de Victoria für „Consort“ eingestreut.

Die fünf Gamben, die zum Einsatz kommen, wurden extra für diese Musik vom Luthier Charles Riché neu gebaut, dabei wurde mit verschiedenen Hölzern und Bauweisen experimentiert. Als Vorlage dienten die Vorgänger Gasparo da Salò und Domenico Russo, aber auch Darstellungen von El Greco, Illustrationen aus Ganassis „Regola Rubertina“ (1542) sowie Instrumente in verschiedenen Museen (Paris, Oxford, Innsbruck).

Auf mich wirkt das alles sehr geschlossen, es besteht ein wenig die Gefahr von Monotonie, doch dem wirken einerseits die erwähnten „Zwischenspiele“, andererseits der unterschiedliche Charakter der zwei Solisten entgegen: Cocset spielt ruhiger, introvertiert (wie in der unten verlinkten Kurzkritik steht, finde ich zutreffend), Balestracci geht viel mehr aus sich heraus, spielt mit viel Schwung und Verve, mit biegsamerem, weniger streng sonorem Ton. Meine liebste Gamben-CD wird das nicht, aber das ist schon sehr schöne Musik!

Hier die erwähnte Kurzkritik – die einzige, die ich finden kann:
https://earlymusicreview.com/diego-ortiz-trattado-de-glosas/

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