Antwort auf: Jazz & Brasil

#11161179  | PERMALINK

friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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@vorgarten
sorry, wenn das jetzt ein bisschen snappy rüberkam, ich hatte niemeyer und die sinnlichkeit des betons ja selbst ins spiel gebracht (auch wenn ich vom herausfordernden dialog mit der landschaft geschrieben habe, nicht von organisch sich in die natur einfügender architektur).

War ja auch eine gezielte Provokation von mir. Da kann ich keine andere Reaktion erwarten.

Entschuldigung, wenn das alles hier etwas besserwisserisch und trotzig rüberkommt und etwas abschweifend und lang ist. Aber was soll‘s? Ist ein guter Anlass, den Fokus hier mal etwas weiter einzustellen und sich Gedanken zu machen.

Ich bin manchmal etwas genervt, wenn Architektur / Stadtplanung der „Moderne“ ungetrübt gelobt wird. Nicht, dass sie keine beeindruckenden Bauten hervorgebracht hat. Aber oft wird gerne übersehen, dass sie auch schwere Probleme verursacht hat. Funktionstrennung von Wohnen, Arbeit, Einkaufen, Kultur und Verkehr, die Abschaffung traditioneller urbaner Typologien wie Parzelle, Häuserblock, Straßenraum und Platz haben sich nicht bewährt. Dabei geht es nicht um Ästhetik und Geschmack, ob die Bauwerke schwungvolle Formen haben oder nicht, es geht darum, ob und wie man Stadt als Organismus begreift, Gebäude als Zellen dieses Organismus und wie sich deren Bewohner an der Gestaltung dieses Organismus beteiligen und darin einrichten können. Dass die Architektur von Niemeyer ästhetisch elegant ist, bestreite ich nicht. Aber ob sie der Entstehung von vielfältigem urbanen Leben förderlich ist? Was nützt einem da das schönste Gebäude? Das mag formal noch so elegant sein, in einem übergeordneten Sinn ist es möglicherweise alles andere als elegant. Eine schöne Skulptur ist nicht auch ein gutes Gebäude.

Mit Brasilia wollte Brasilien sich wohl selbst neu erfinden. Soziale, politische und wirtschaftliche Konflikte hatte man mehr als genug, und die neue Hauptstadt verkörperte wohl die Idealvorstellung einer strahlenden Zukunft. Ein großer Sprung nach vorne, der zumindest in dieser lokal verwirklichten Utopie die Sorgen der Vergangenheit abschüttelt und als gemeinsames Identifikationsobjekt dient. Das ist aus der damaligen Zeit nachvollziehbar und war sicher eine großartige Verheißung.

Die städtebaulichen / architektonischen Prinzipien von Brasilia stammen ursprünglich aus dem Europa der 20er/30er, setzten sich aber auch da erst in der Nachkriegszeit durch, z.B. als Deluxe-Version im Berliner Hansaviertel, als Economy-Version im Märkischen Viertel und hätte der Volkszorn es nicht verhindert, wäre auch Kreuzberg heute eine Hochhaussiedlung mit Autobahnanschluss. Doch so hübsch, ruhig und grün das Hansaviertel ist (wo auch Niemeyer ein Haus geplant hat), so wenig städtisches Leben gibt es dort, so sozial-reformerisch gut gemeint das Märkische Viertel war, so große soziale Probleme gibt es dort. Und es war der teils militante Widerstand gegen Abriss- und Neubaupläne in Kreuzberg, der die jetzige sozio-kulturelle Mischung dort erst entstehen ließ und ein bunter Mix an Subkulturen kaperte sogar einige der verwirklichten Neubauten.

Man ist schon lange von den architektonischen / städtebaulichen Idealen der „Moderne“ abgerückt. Anspruch und Wirklichkeit klafften zu weit auseinander und nicht nur das Hansaviertel sondern auch Brasilia wirken aus heutiger Sicht fast museal.

Das alles schwingt bei mir mit und löst manchmal einen Beißreflex aus.

Aber wir wollen hier ja nicht über Architektur und Städtebau diskutieren, sondern über Musik und die Bedingungen, unter denen sie entstand. So kamen wir darauf und das ist auch interessant. Kaum war die vom Kommunisten Niemeyer im Nirgendwo geplante Sci-Fi Hauptstadt fertig, putschte das rechtsgerichtete Militär und zog dort ein. Ungefähr zeitgleich dichten und singen in der alten Hauptstadt Rio de Janeiro A. C. Jobim, Joao Gilberto und Astrud Gilberto von einem hübschen Mädchen am Strand von Ipanema und dem Blick auf den Corcovado: „Oh, how lovely!“ Das zusammen finde ich schon wieder gruselig und faszinierend zugleich.

Nein, ich habe Orfeu Negro nicht gesehen, sondern kenne nur den Soundtrack. Schande über mich. Woher soll ich die Zeit dafür nehmen? :-( Aber ich habe mir jetzt mal die DVD besorgt.

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)