Antwort auf: Jazz & Brasil

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vorgarten

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@friedrich,

sorry, wenn das jetzt ein bisschen snappy rüberkam, ich hatte niemeyer und die sinnlichkeit des betons ja selbst ins spiel gebracht (auch wenn ich vom herausfordernden dialog mit der landschaft geschrieben habe, nicht von organisch sich in die natur einfügender architektur).

hier mal ein eindruck vom bühnenbild von niemeyer für das orfeu-stück (das ist ja sein einziger konkreter beitrag zur bossa-welle):

in den modellen (leider nur pinterest) sieht man, wie die großstadt am rand angedeutet wird, die favela auf dem hügel dann aber ein abstrakter freier raum mit harten und fließenden akzenten, die aber im wesentlichen darauf warten, von menschen bespielt zu werden.

im sinn des austauschs und der gegenseitigen beeinflussung (thread-thema) von urbaner brasilianischer musik und us-jazz anfang der 1960er (mein ausschnitt) ist das mit der konstruktion von selbst- und fremdbildern schon sehr interessant.

de moraes und jobim (und niemeyer) ging es in ihrem kommunistischen ethos ja wohl um eine abbildung des kulturellen reichtums des landes, der, weil die produzierenden arm und schwarz sind, im nationalen selbstbild fehlte. deshalb bringen sie das mal auf die stadttheaterbühne vor ein weißes publikum und schreiben sophisticatete songs „in diesem stil“. typische weiße künstler-haltung: wir sprechen aus wissender position heraus für andere, die es nicht selbst hinkriegen (oder daran gehindert werden). das alles als modernistischer, utopischer entwurf für ein „neues brasilien“.

in europa und den usa entsteht dort erstmal eine wahrnehmung des ganzen als folklore, wobei dann wohl irgendwie auffällt, dass das nicht recht passt: das ist kein geschichtsloses glückliches trommeln und singen selbstvergessener menschen, wenn gleichzeitig in architektur und songwriting modernistische standards gesetzt werden. die andere these ist natürlich, dass die amis schnell herausgefunden haben, dass sich folklore schlechter verkauft als modernistischer lifestyle, und weil bossa nova auch zu hifi-stereoanlagen und fluiden wohnzimmerlandschafen passt, setzte man dann einfach auf den moderne-aspekt der musik.

ironie ist, dass die brasilianer die entwicklung ja 1962 schon durchhatten mit bossa-nova-waschmaschinen und samba-flugzeugen, woraufhin sich jobim, moraes und gilberto auf die tradition ihrer musik besannen bzw. ein reclaiming versuchten (de moraes forscht sogar mal zur abwechslung und und seine mythologisierungen führen dann konkreter in den candomblé und nicht mehr nur zu ovid), landen damit dann aber ausgerechnet in der us-amerikanischen bossa-welle, die dort zur abgrenzung von free jazz (s. getz) usw. instrumentalisiert wird, während zuhause das militär putscht.

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