Antwort auf: Jazz & Brasil

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kurganrs

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friedrich

vorgarten

friedrich In den liner notes auf dem fingerdicken Pappcover kommt der Begriff Bossa Nova gar nicht vor. Von Samba ist die Rede. „The union of Stan Getz and Charlie Byrd on the recording is particularily fortunate. Each musician is a sensitive soloist with great lyrical power. Neither attemped to to „play latin“, but let the ingratiating (dtsch: „einnehmend“) Samba rhythm carry them along in their improvisations on the melodic content of the music.“

auch gilberto hat sich nicht als bossa-nova-musiker bezeichnet, sondern immer gesagt: ich spiele samba.

friedrich (…) Die Gedanken zu den abstrakt-expressionistischen Covers und auch die Erwähnung eines Architekten einer damals noch heroischen Morderne – Oscar Niemeyer – finde ich reizvoll. Streng genommen sind das – abstrakter Expressionismus einerseits, weiße architektonische Moderne andererseits – zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Hier die spontane individuelle Geste, dort der große Plan, kühl und geometrisch ausgeführt. Was beiden gemeinsam ist, ist vielleicht die Behauptung, sich von überkommenen Traditionen zu befreien, alles wieder auf „Los!“ zu stellen und frisch, forsch und frei eine Utopie zu entwerfen. Und so wurden diese Covers damals wohl auch wahrgenommen.

so viel geometrie ist nicht bei niemeyer, oder? eher geschwungene linien, in beton übertragene sinnlichkeit, die sich auf herausfordernde weise mit der landschaft unterhält. ich habe das eigentlich aus us-amerikanischer perspektive betrachtet: wie soll man diese musik „folk“ nennen, wenn gleichzeitig sowas wie brasilia entsteht und der staat sich gerade vom postkolonialistischen raubtierkapitalismus lösen will? ist der „jazz samba“ unter diesen vorzeichen jetzt was altes oder was modernes? creed taylor hat gesagt: für diese musik gab es noch kein bild, da war der abstrakte expressionismus von albizu ein glücksgriff. ein vorbegriffliches, offenes angebot, das die musik mit assoziationen auffüllt, so wie ornette coleman das vielleicht auch gerne gehabt hätte, bevor man seine musik (völlig flasch) als „free jazz“ labelte. er selbst hat ja auch abstakt expressionistisch gemalt: (…) eine freundin von mir hat gerade brasilianische kritiken zum ORFEO-NEGRO-film herausgesucht, die alle sehr ablehnend waren. man fand es unangenehm, aus europäischer perspektive als rückständiges, farbenfrohes land gesehen zu werden, in dem alle von morgens bis abends halbnackt samba tanzen. aber damit wird man ja dem film als film auch nicht völlig gerecht.

„I am not attracted to straight angles or to the straight line, hard and inflexible, created by man. I am attracted to free-flowing, sensual curves. The curves that I find in the mountains of my country, in the sinuousness of its rivers, in the waves of the ocean, and on the body of the beloved woman.“ (Oscar Niemeyer) Congresso Nacional, Brasilia Donnerwetter, Senhor, Niemeyer! Dann müssen sie mir aber mal die Berge, die Flüsse, die Wellen und die Kurven der geliebten Frau zeigen, die so makellos geometrisch und deren Oberflächen so glatt, weiß und perfekt sind wie ihre mit Zirkel und Lineal konstruierten Bauten! Brasilia, die Brasilianische Hauptstadt, für die ON viele öffentliche Gebäude geplant hat, ist eine Retortenstadt. Dafür hat man erstmal die Natur soweit es geht beseitigt. Und die Gebäude sehen aus wie gelandete Raumschiffe. Vor meinem geistigen Auge sehe ich da Captain Kirk, Spock und Pille aussteigen. Klar, bei dieser Stadtplanung und Architektur ging es darum, dass sich Brasilien als „fortschrittliches“ Land darstellt, das einen großen Sprung nach vorne vom rückständigen „Entwicklungsland“ zur modernen „Industrienation“ macht. Gibt es immer wieder mal, solche Versuche, und meist wird dafür vieles an Tradition gnadenlos geopfert. Ich habe übrigens nichts gegen Oscar Niemeyer und seine Architektur. Aber auch die ist so ambivalent wie vieles andere. Nur tut sich die architektonische Moderne selbst so schwer mit der eigenen Ambivalenz. Aber genug schwadroniert! Die Cover-Motive von Getz‘ „Bossa-Alben“ finde ich übrigens sehr gut. (Das Album mit Almeida ist was anderes.) Insbesondere das Cover von Getz/Gilberto ist für mich eng mit der Musik verbunden. Musik und Kunst scheinen zwar aus völlig unterschiedlichen Kontexten zu stammen und haben eigentlich nichts miteinander zu tun. Aber dadurch, dass man diese LP in dieses Cover gesteckt hat, gehen sie eine sehr schöne Verbindung ein und werden untrennbar. Und klar, das Cover wirkt „modern“, die Musik bekommt damit eine ganz andere Färbung. Den Film Orfeu Negro habe ich leider nicht gesehen, aber der Soundtrack allein (und das Cover, in dem er steckt) wirkt schon folkloristisch. Karneval, Samba, mythische Liebesgeschichte – das sind alles uralte Geschichten. Da war Creed Taylor schon sehr clever, dass er Getz‘ Bossa-Alben mit diesen Covers in die Moderne katapultiert hat. Auf jeden Fall ist der Imagewechsel bei der Musik besser gelungen als bei dem Land Brasilien. Die Kombi Ornette Coleman ↔ Abstrakter Expressionismus fand ich übrigens immer sehr stimmig.

@friedrich: Schön geschrieben.  :good:
Mich beeindruckt moderne, schöne, stimmige Architektur.