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Ich muss mich entschuldigen, @redbeansandrice, dass ich jetzt erst etwas schreibe. Aber es passte vorher einfach nicht. Und ich werde auch nicht gleich zu allen Tracks etwas schreiben können, sondern wohl in drei Portionen. Hoffe, das ist okay.
Track #01
Ein Höhepunkt gleich ganz zum Anfang. Und das Stück selbst scheint auch mittendrin anzufangen. Klingt wie die Instrumentalversion eines Vokal-Stücks. Mit viel Glam arrangiert, mitreißende Melodie auf dem Sax, die man laut mitsingen möchte. Vielleicht mehr Soul als Jazz. Geht sofort ins Ohr und ins Herz. Das erinnert mich daran, dass bei mir immer noch King Curtis‘ Live-Album als opener für Aretha Franklin auf dem Wunschzettel steht.
Track #02
Track #01 geht direkt ins Ohr, Track #02 macht es mir schon schwieriger. Tastendes Sax, zaghafter Einstieg der rhythm section. So geradeaus #01 ist, so verschwurbelt ist #02. So tightly knit #01 ist, so locker sind die Fäden bei #02. Dort große Bühne, hier kleiner Club. Hat es bei mir im Anschluss an den ersten Track ziemlich schwer. Uups – der Applaus des offenbar doch zahlenmäßig recht starken Publikums überrascht mich am Ende.
Track #03
Das ist wieder ein gutes Stück strammer als #02. Das Sax geht lebhaft nach vorne los, die rhythm section swingt und ab geht die Post! Fast schon akrobatisch, wie es aus dem Saxofonisten raussprudelt. Ein Showman! Am Ende wird es fast kabarettistisch. Damit haben offenbar alle Beteiligten 7 Minuten viel Spaß. Ich auch.
Track #04
Zuerst fällt mir die Gitarre statt des Klaviers auf, dann setzt ein charmant-gutgelauntes Sax ein, das mich mit der Melodie mitnimmt. Und – Holla! – der Gitarrist lässt sich auch nicht lumpen und lässt die Finger über die Saiten flitzen. Und – Schande über mich! – jetzt stelle ich erst fest, dass es da doch ein Klavier gibt, das sich ungefragt ins Gitarrensolo einmischt und dann einfach übernimmt. Klingt sehr spontan, teils etwas holterdipolter. Wundert mich, dass das keine Live-Aufnahme ist. Frech und flott!
Track #05
Hier gibt es die kabarettistische Einlage mit dem Stummfilm-Marsch gleich zu Anfang. Dann löst sich das aus diesem Klischee und mutiert zu etwas völlig anderem. Das erzeugt natürlich Spannung, wohin das führen mag? Aha, Am Ende schließt sich der Kreis wieder und wir alle klopfen uns gegenseitig lachend auf die Schulter.
Bis hierhin habe ich noch keinen einzigen Musiker und kein einziges Stück erkannt. Oberflächliches Diagonalhören der folgenden Tracks deutet darauf hin, das das auch so bleiben wird. Aber für Unterhaltung ist gesorgt.
Track #06
Schönes verträumte Klarinette, dezent getupfte Begleitung von Bass, Vibes und Piano. Gefällt mir zunächst sehr gut. Bei ca. 0:45 kommt es mir fast so vor als würde eine Bass-Klarinette übernehmen, aber da spielt der gleich Soloist weiter, oder? Und es wird deutlich free-er. Die folgende getupfte Passage von Bass, Piano und Windspiel (?) gefällt mir wieder sehr. Wie der Wind in den Blättern … Eigenartig, wie oft dieses Stück im Verlauf seinen Charakter wechselt, von melodisch fließend über impressionistisch getupft bis zu swingend und wieder zurück. Fast wie eine Metamorphose. Raffiniert. Habe mehrmaliges Hören gebraucht um mich darauf einzulassen. Hörte sich für mich erst etwas gewollt an. Aber erscheint mir jetzt ganz selbstverständlich dahinzufließen.
Track #07
Drastischer Stimmungswechsel! Unisono vorgetragenes Thema, swingende rhythm section, Trompetensolo, Saxsolo … Bekannter Ablauf, Klare Verhältnisse. Das ist fingersnippin‘ good, macht Spaß, bietet aber auch keine große Überraschungen.
Track #08
Das nimmt mich mit seinem im ¾-Takt tänzelnden Charme sofort ein. Schön weicher Trompetenton, perlendes Piano, der drummer ist herrlich verspielt, ohne dass das Stück seinen groove verliert und alles zusammen reitet auf der bassline. Ganz wunderbares Zusammenspiel. Bravo!
Track #09
Ein Kabinettstück für 2 Gitarren. Klingt fast so, als würde der Gitarrist ein Duett mit sich selbst spielen, so ähnlich klingen die beiden. Wie Geschwister. Mal parallel, mal leicht versetzt, mal gegenseitig kommentierend. Und swingt natürlich auch sehr schön. Feine kleine Sache.
Track #10
Hui! Jetzt geht‘s richtig ab. Sehr dicht, rasant, nach dem Thema springt der Pianist in den Ring, zeigt, was er kann und lässt seine Finger nur so über die Tasten flitzen. Akrobatisch, halsbrecherisch und rauschhaft. Und selbst die Passage mit nur Piano, Bass und drums klingt so fett wie eine Big Band. Ein heißer Ritt!
Danach muss man erst mal durchatmen. Dafür sorgt:
Track #11
Und schon wieder ein abrupter Stimmungswechsel. Gelassen schlenderndes Klavier, gestrichener Bass, schön und gemächlich wogende Bläser. Diese Gelassenheit behält das Klavier während des Solos bei, nur gelegentlich werden mal schärfere Akzente gesetzt. Am Ende schließt sich wieder Kreis mit den Bläsern. Sehr schön!
Track #12
Das hier kocht wieder. Das Thema am Anfang erinnert an So what?, aber ist nur ein kleines Kürzel daraus, oder? Der drummer kann schon da nicht mehr an sich halten und danach geht es sowieso ab und jeder darf zeigen, was er kann. In meinen Ohren ist das einerseits heiß und aufregend, andererseits aber auch etwas beliebig. Interessant wird es für mich wieder kurz vor Ende, wo Sax, drummer und Orgel sich gegenseitig die Bälle zuwerfen.
Track #13
Der erinnert mich in seiner intensiven Dichte an #10. Wenn ich es negativ ausdrücken wollte, würde ich sagen, diese Musiker haben noch nie etwas davon gehört, dass das spannendste musikalische Mittel die Pause ist. Positiv ausgedrückt ist das aber ein gut 4-minütiger Rausch, bei dem die Töne nur so heraussprudeln und umhersprühen und schon wieder verschwunden sind, bevor ich sie richtig hören konnte. Ist überwältigend, aber danach muss ich erstmal durchatmen.
Track#14
Durchatmen kann ich offenbar bei diesem Stück. Melancholie mit spanischer Gitarre und sehnsüchtigen Sax im Hintergrund. während das Tenor erzählt eine traurige Geschichte erzählt. Kurzer Schwenk auf einen Blues, dann Schwenk auf die Bläser. Großes Kino! Hach, da wird mir ganz wehmütig!
Track#15
Hier ist wieder gute Laune angesagt! Partystimmung im Club mit souligen Tenor und Schweineorgel, die ordentlich einheizen. Das Thema möchte man laut mitsingen. Wie auch Track #01 erinnert mich das daran, dass ich King Curtis noch auf dem Wunschzettel stehen habe. Und es erinnert mich daran, wie Gospel, R&B und Jazz zusammenhängen. Das ganze Setting, die Besetzung, die Melodie, der Groove, das ist fast schon etwas Standardisiertes, was ich hier aber keineswegs abwertend meine. Das ist eine bewährte Sache, fast Folklore, und es kommt darauf an, was im speziellen Fall daraus gemacht wird und ob und wie es die Gemeinde erreicht. Hier ist es sehr uplifting!
So, das war‘s von mir. Ich hatte vorher fast nichts von den vorhergehenden Kommentaren gelesen, erst im Nachhinein schau ich jetzt etwas dort rein. Track #01 ist A. C. Jobims Wave? Habe ich nicht erkannt. Die in meinen Ohren gegenüber der mir bekannten Aufnahme von ACJ fast gegensätzliche Stimmung dieses Tracks (dort entspannt, hier leidenschaftlich) macht es mir zu schwer. Aber ist interessant.
Alles in allem ist Dein BFT ein bunter Strauß mit teils abrupten Sprüngen hinsichtlich Stil und Stimmung, was mich manchmal irritiert, manchmal angenehm überrascht. Mit Track #08 als Favoriten stehe ich hier offenbar nicht alleine da.
Besten Dank!
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)