Antwort auf: Jazz & Brasil

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vorgarten

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3. bewegung: orfeu negro, chega de saudade, bossa nova

mitte der 1950er jahre besteht die urbane populäre musik brasiliens im wesentlichen aus samba-cançãos, samba-liedern, das waren angejazzte schlager mit melodramatischen inhalten im verlangsamten samba-rhythmus, oft gesungen von charismatisch-divösen sängerinnen. die jugend bevorzugt die sich an sinatra orientierenden, also wenig verzierenden sänger wie lúcio alves oder johnny alf (die später auch der bossa nova zugerechnet wurde). das populärste instrument (auch der jugend) ist das akkordion (u.a. gespielt von joão donato), es gibt außerdem diverse crooner-gruppen (leidlich bekannt wird in den gartos da lua z.b. joão gilberto).

der zunächst bei continental, dann bei odeon als arrangeur arbeitende und als nachtclub-pianist auftretenden antônio carlos jobim (1927-94) nimmt 1954 mit billy blanco die 10“ „sinfonia do rio de janeiro“ auf, die ein misserfolg wird. kurz danach trifft er den literaten und politiker vinícius de moraes, der zuvor 3 jahr in paris als brasilianischer vizekonsul verbracht und dort ein libretto für ein musical namens „orfeu da conceição“ verfasst hat, das griechische tragödienmotive im karneval von rio ansiedelt. vorbild war interessanterweise „cabin in the sky“ (1943), der erste großbudgetierte hollywoodfilm mit afroamerikanischer besetzung, der vom schicksal eines mannes erzählt, um den engel und der teufel ringen – u.a. louis armstrong, lena horne und das orchester von duke ellington treten darin auf.

jobim wurde für die liedkompositionen engagiert, das stück hat am 25. september 1956 im stadttheater von rio de janeiro premiere – auch hier ist der hauptsächlich schwarze cast ein novum auf brasilianischen bühnen. das bühnenbild ist von oscar niemeyer, der gitarrist ist luiz bonfá (1922-2001). die lieder (u.a. „se todos fossem iguas a você“, „um nome de mulher“, „lamento no morro“) werden kurz danach von odeon auf einer 10“ veröffentlicht, de moraes spricht die monologe, jobim leitet das orchester, allerdings wird als lead der schnulzensänger roberto paiva verpflichtet.

in den usa nimmt luiz bonfá für atlantic 1958 ein sparsames gitarren-„foklore“-album auf (AMOR! THE FABULOUS GUITAR OF LUIZ BONFA), das neben vielen exotica auch den „samba de orfeu“ unter dem titel „carnival“ enthält

joão gilberto (1931-2019) verbringt bis zum mai 1956 8 monate bei seiner schwester in minas gerais und entwickelt einen neuen gitarren- und gesangsstil: leise, sparsam, mit akkorden, die gleichzeitig den rhythmus vorgeben und einem flexiblen rhythmus, der wiederum offen ist für neue akkorde. „bim-bom“ und „hô-ba-la-lá“ entstehen. jobim, der sich mit verminderten akkorden bei debussy und ravel beschäftigt, beschließt, mit ihm zusammenzuarbeiten und holt eine ältere komposition aus der schublade, „chega de saudade“, ein samba-canção. auf dem von jobim produzierten neuen album von elizete cardoso, CANCAO DE AMOR DEMAIS, singt sie es zur „neuen“ gitarrenbegleitung von gilberto (ohne credit). das album wird kein erfolg.

im juli 1958 nimmt gilberto „chega de saudade“ nochmal, von jobim viel sparsamer arrangiert, auf single auf. die b-seite ist „bim-bom“. am schlagzeug sitzt milton banana, der einen auf gilberto abgestimmten leisen drumstil entwickelt hat. auf umwegen wird die single zuerst in são paulo ein hit, später in rio.

joão donato bleibt mit seinen einspielungen (u.a. das mit gilberto geschriebene „minha saudade“) erfolglos und geht 1959 über mexiko für 13 jahre nach kalifornien, wo er u.a. mit cal tjader und eddie palmieri spielt.

die erste welle der neuen musik verändert die populäre musik brasiliens grundlegend: jugendliche lernen gitarre spielen, der begriff „bossa nova“ wird in einem ankündigungstext für ein uni-konzert geboren, jobim schreibt mit newton mendonçã ende 1958 „desafinado“, in dem der ausdruck fällt („isto é bossa nova, isto é muito natural“). ein weiterer angeschlossener zirkel von komponisten und liedermachern bildet sich in einer gitarrenakademie und dem apartment der sängerin nara leão, um carlinhos lyra, ronaldo boscoli und rôberto menescal.

im januar und februar 1959 nimmt gilberto sein erstes album auf, von jobim arrangiert, darauf ist u.a. „desafinado“ zu finden.

in der zwischenzeit entsteht mit französischem geld die filmadaption von ORFEU NEGRO. da der produzent sacha gordine an den kompositionen verdienen will, gibt er komplett neue songs in auftrag. jobim und de moraes komponieren „a felicidade“ (eine bossa nova), „o nosso amor“ und „frevo“, für weiteres material wird luis bonfá angefragt, der auf dem sprung in die usa ist. er holt zwei songs aus der schublade, für die es nur noch texte braucht: „manhã de carnaval“ und „samba de orfeu“. für den soundtrack wird alles von elizete cardoso und agostinho dos santos eingesungen, gilbertos stimme klingt „nicht schwarz genug“.

er selbst nimmt vier songs auf einer 45er doppelsingle auf, die zum brasilianischen kinostart im sommer 1960 herauskommen:

zusammen mit gilbertos debütalbum ist die bossa nova in brasilien angekommen. ORFEU NEGRO erhält die goldene palme von cannes im mai 1959 und wurde mit dem oscar für den besten „fremdsprachigen“ film des jahres ausgezeichnet. die songrechte wurden über gordine weltweit, vor allem aber in die usa lizensiert. erste jazzversionen von „manhã de carnaval“ (als „black orpheus“, „theme from black orpheus“, vokalversionen ab 1963: „carnival“ und ende der 60er „a day in the life of a fool“) gab es vor und zeitgleich zu den aufnahmen von JAZZ SAMBA (byrd/getz) 1961 (rocky byrd, wayne shorter, erste vokalversion 1962 von pat thomas, gefolgt von ella fitzgerald).

gilbertos zweites album O AMOR, O SORRISO E A FLOR wird zwischen märz und august 1960 aufgenommen, wieder von jobim produziert und arrangiert, es enthält weitere seiner klassiker: der ein-noten-samba (samba de uma nota só“), „meditação“, „corcovado“, „outra vez“. es wird von capitol im gleichen jahr als BRAZIL’S BRILLIANT JOAO GILBERTO in den usa herausgebracht.

im mai 1960 begleitet joão gilberto seine frau astrud in einer der neuen bossa-nova-shows. in radio- und tv-sendungen werden die jungen stars der neuen musik vorgestellt. lena horne lernt „bim-bom“ auf portugiesisch und singt es im mai im copacabana palace, bevor sie gilberto kennenlernt. sarah vaughan versucht, johnny alf dazu zu bewegen, ihr nächstes album zu arrangieren. nat king cole nimmt in rio mehrere stücke mit sylvia telles auf, der frau des odeon-präsidenten aloysio de oliveira (sie ist „dindi“ in jobims gleichnamigen song und trat anfang der 1960er mit barney kessel in den usa auf).

eine letzte kuriosität vor der hit-single-einspielung von „desafinado“ durch getz und byrd war das album des west-coast-jazzpianisten vince guaraldi, JAZZ IMPRESSIONS OF BLACK ORPHEUS, das im april 1960 in den usa erschien. darauf waren drei bonfa/jobim-kompositionen, von denen „samba de orpheus“ als erste single ausgekoppelt wurde. ein hit wurde allerdings die b-seite, „cast your fate to the wind“, die mit brasilien nichts zu tun. sie erhält den grammy für die beste instrumentale jazzkomposition des jahres. guaraldi nimmt 1964 mit dem gitarristen bola sete auf.

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