Antwort auf: blindfoldtest #31 – vorgarten

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vorgarten

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auflösung, teil 2.1 – die aufnahmen:
no leaders – intuitive, harmolodiker und kollektivisten

1 |

„dark matter“
john tchicai/ charlie kohlhase/ garrison fewell/ cecil mcbee/ billy hart: TRIBAL GHOST
no business records, 2013
john tchicai (bcl), charlie kohlhase (bs), garrison fewell (g), cecil mcbee (b), billy hart (dm)
rec. live at birdland (nyc), 6./7.2.2007

dunkle materie. nach einem ausgesprochen klassischen jazzgitarren-intro kommt ein bass hinzu, dann weitere dunkle instrumentenfarben. fewell ist einerseits ein sehr konservativer gitarrist (der auf einer gibson l-5 spielt, wie wes montgomery), der das wissensfeld in berklee unterrichtet und darüber auch bücher geschrieben hat, andererseits hat er viel erfahrung mit nahöstlicher trancemusik (um dem vietnam-einzug zu entgehen, verbrachte er viele jahre in afghanistan). sein gitarristischer ansatz ist aber eigentlich nochmal anders: seine linien verbinden sich mal mit dem bass, mal mit den beiden anderen melodieinstrumenten, in einem freien, „intuitiven“ dialog, den man fast in der nachfolge billy bauers hören könnte (dieser ist die erste wichtige leerstelle im bft, btw.). mit kohlhase und tchicai spielte er eigentlich im trio, aber der betreiber des birdland bestand auf einer rhythm section – so kamen mcbee und hart dazu, die den kollektiven geist aber sehr schön aufgreifen. das ganze ist retro-musik aus einem freien geist heraus, bildet eine klammer mit parker/mazurek am ende, setzt den klassischen jazzgitarrenton in ein neues licht.

als TRIBAL GHOST herauskam, war das ein ziemlicher hit hier im forum (aber auch sonst). aber vielleicht nicht bei denen, die hier beim bft mitgemacht haben.

leider ist fewell früh gestorben, kurz nach tchicai und roy campbell, mit dem er ebenfalls viel gespielt hat. hier das cover seines lehrbuchs:


2 |

„time for a change“
monnette sudler quartet/ quintet: TIME FOR A CHANGE
steeple chase, 1977
monnette sudler (g), oliver collins (p), gerald benson (b), newman baker (dm)
rec. 7.11.1976, denmark

ein trockener funk mit einem schöne swing-twist und ein thema, das beides trägt. mit dem klavier entsteht ein dialog, das diesem ständigen wechsel rechnung trägt. monnette sudler kommt aus philadelphia und ist bis heute mit der dortigen szene verbunden (auch wenn sie mal kurz in berklee studiert hat). sie hat dort mit khan jamal in lofts gespielt, r&b und funk, mainstream jazz und feministische spoken-word-artistry gehören zu ihrem programm, sie spielt außerdem bass, schlagzeug und klavier. lokal ist sie sehr bekannt, ansonsten kaum – weil sie eine frau war und man mit ihr nicht auf tour gehen wollte, sagt sie. aber als sie schwer krank wurde, sammelte die szene vor ort genug geld für eine doppelte lungentransplantation. ihr album-leader-debüt übernahme 1977 das dänische steepechase-label, es entstand genug material für zwei alben, später gab es noch ein live-album.

hier ein konzertmitschnitt von 2010:


3 |

„z jam blues“
bern nix trio: ALARMS AND EXCURSIONS
counter currents/ new world, 1993
bern nix (g), fred hopkins (b), newman baker (dm)
rec. 25./26.1.1993 nyc

wieder newman baker an den drums, hier umtänzelt er den harmolodischen gitarristen bern nix, und der geniale bassist fred hopkins ist auch noch dabei. auch nix studierte in berklee und kam 1974 zu ornette coleman, der sich seit james blood ulmer 1971 an gitarristische begleitungen gewöhnt hatte. beide teilten sich den gitarrenpart auch mal, später war mit charles ellerbee ein weiterer gitarrist neben nix in der prime-time-band. colemans konzept sah ja keine hierarchie in bands vor, und nix hat das auch in seiner eigenen trio-aufnahme beibehalten – hopkins agiert genauso eigenständig, genauso im kontakt zum verschrobenen thema, es reibt sich alles ständig, findet woanders zusammen, geht eigene wege. nix ist kein virtuose, aber ein sehr eigenständiger musiker. für mich eine große entdeckung.

4 |

„sphinx“
james blood ulmer plays the music of ornette coleman: MUSIC PLAYS LOUDER THAN WORDS
DIW, 1996
james blood ulmer (g), calvin „hassan truth“ jones (b), rashied ali (dm)
rec. 18./19.12.1995

jetzt muss ich mich kurz halten (warum gibt es eigentlich noch keinen blood-thread?). kein originärer bluesmusiker (das war in seiner familie verboten), kein besonders erfolgreicher montgomery-imitator (sein idol ignorierte ihn, als er ihn in seiner pittsburger frühphase ansprach, während am gleichen ort george benson mit montgomery-weihen durchstartete), kein besonders aufmerksamkeitserregender orgeltrio-gitarrist (in detroit gab es engagements bei hank marr, dann bei john patton, mit dem er nach new york ging). der plan, bei miles davis zu spielen, klappte nicht (bei benson wiederum schon), und als er mit patton 1970 nach new york kam, war gerade hendrix gestorben. glücklicherweise lernte er billy higgins kennen, und über ihn ornette coleman, der ulmer als „natürlichen harmolodiker“ erkannte. ulmer zog bei ihm ein, spielt ein jahr täglich mit ihm – und plötzlich hatte coleman wieder ein begleitinstrument in der band (und das publikum lief scharenweise aus den konzertsälen). ulmer übernahme das colemankonzept auf verschiedenen wegen: er stimmte seine gitarre völlig originell, absprachen mit anderen musikern über tonart usw. sind seitdem nicht mehr möglich. die dichten, komplett verzerrten sounds sind besonders, ebenso sein pausenloses dazu-spiel (oft akkordisch und single-notes im ständigen wechsel), er benutzt die montgomery-daumen-technik, bei der sich die einzelnen töne aus den stummgehaltenen akkorden herausschälen, und seine kompositionen sind interessante aktualisierungen der colemanschen kinderliedmelodien.

ulmers eigentliches debüt ist REVELALING von 1977 (mit george adams, cecil mcbee und doug hammond), das erschien aber erst sehr viel später auf dem deutschen in&out-label. zuerst zu hören war er also 1979 mit coleman, tacuma und colemans sohn denardo auf TALES OF CAPTAIN BLACK – und das klang so:

ulmer behielt das punkige konzept zunächst bei, das „free funk“ genannt wurde; seine band war die einzige schwarze, die an downtown-wave-orten wie der danceteria auftrat. es gab einen kurzen deal mit columbia, worauf das tolle trio odyssey (mit charles burnham, violine, und dem drummer warren benbow) erstmal zu hören war. danach entwickelte er das harmolodische konzept einerseits mit seiner jazzigen band phalanx (george adams, sirone, rashied ali) und dem sehr viel härteren music revelation ensemble (mit amin ali und verschiedenen drummern, saxpartner zunächst david murray, später blythe, bluiett, rivers, zorn und sanders) weiter. mit bill laswell gab es dubbige blues-flirts (ulmer singt recht idiosynkratisch, spielt außerdem ziemlich gut flöte), was er in den 90ern mit tighteren bands weiterentwickelte. letzte stationen bislang waren die untypischen bluesalben mit vernon reid, u.a. das solo BIRTHRIGHT:

das relativ späte album mit ornette-coleman-kompositionen und -hommagen verbindet verschiedene seiner eigenwilligen harmolodik-ansätze, wobei schon die bands schräg zusammengesetzt sind – wie hier mit rashied ali und dem muddy-waters-bass-veteranen calvin jones (jahrgang 1926). john abercrombie (weitere schmerzende leerstelle hier) hat das gleiche stück mal von ted panken in einem blindfoldtest vorgespielt bekommen und äußerte sich bewundernd folgendermaßen:

I love the feel of this piece. It reminds me a little bit of something from sort of semi Sonny Sharrock, but not really. It could be one of these Albert Ayler tunes or something like that, something in that vein. It sounds like somebody who’s playing with their thumb a little bit, but it’s not Wes! It doesn’t really sound like him, I didn’t know he played anything this out, but it could be… Could it be Kevin Eubanks? It sounds too harmonically oriented to be Sonny Sharrock, but that was still my first take on it. It still could even be somebody like that, but… James Blood? Wow! This is great. I don’t know that tune. I have to get this. I’ve heard some other stuff by Blood and I liked it. I have some of this stuff where he was singing that I enjoyed, but I’ll have to get this. This definitely sounds very hip to me. Very open. And it’s kind of funny; that’s why I thought it was Sonny Sharrock, because of some of the similarities. He sounds to me more harmonic. I hear more harmonic information in his playing. It’s cool. And I think he does sort of play with his thumb a little bit, because it’s got a little bit of that feel. It’s plucky. He chokes the notes a little bit, so it… I’ll give this 5 stars. I still like it. [AFTER] Now that you tell me it was Rashied Ali, it makes total sense, because I played with him once, and he has a great way of playing a sort of open music. you really feel like they’re playing on a form or something. It really has a great swing, a pulse to it. It’s not just free. I think that’s what makes it work. That’s what makes everything sound so great.

5 |

„waiting inside“ (b. frisell)
billy hart: OSHUMARE
gramavision, 1985
jabali billy hart (dm), steve coleman (as), branford marsalis (ts), bill frisell (g), kenny kirkland (p), dave holland (b), manolo badrena (per) [marc gray, key; kevin eubanks, g; didier lockwood, vl]
rec. 1985, nyc

wie lässt man bill frisell in einem blindfoldtest auftauchen, ohne dass man ihn sofort erkennt? ihn nicht zu präsentieren, ging nicht, kein anderer jazzgitarrist hat das instrument prominenter als etwas etabliert, das mit einfachen melodieintrumenten nicht mehr zu vergleichen ist. dazu kommt, dass er eigentlich keine linearen soli spielt, sondern einzelne sounds auftürmt und wieder abbaut (eines seiner gimmicks ist das sustain-pedal, mit dem er einem im raum stehenden akkord etwas völlig anderes hinzufügen kann). das ding hier ist ein schräger behelf, da er es zwar komponiert hat, sich aber mit wenigen atmosphärischen sounds sehr im hintergrund hält. die absurde band hier besteht aus jungen löwen, m-basern und weißen downtown-ny-leuten, damit sind drei hauptströmungen des us-jazz der zweiten 80er-hälfte auf einem haufen vertreten. besonders witzig für mich ist natürlich das als „schmalzig“ identifizierte saxofonsolo von steve coleman, dem kenny kirkland noch eins auf dem synth-grand-piano hinterherschickt. david baker wird seine große mühe damit gehabt haben, das alles vernüftig in einen sound zu integrieren.

frisells spiel zu charakterisieren, außer, dass er seine komplizierten apparaturen vollständig beherrscht und mit sehr viel technik einen sehr persönlichen, jederzeit identifizierbaren sound hinbekommt, ist quasi unmöglich.

6 |

„probe“
harriet tubman: ASCENCION
sunnyside, 2011
harriet tubman double trio: brandon ross (g), melvin gibbs (b), jt lewis (dm), ron miles (tp), dj logic / dj singe (turntables)
rec. live at the Knitting Factory, NYC on 9-02-00

wir bleiben im knitting-factory-umfeld, allerdings in seiner schwarzen ausprägung, das trio-band-projekt „harriet tubman“ (benannt natürlich nach der underground-railroad-aktivistin, unfassbare biografie) existiert seit 1998, angestrebt wird eine „pan-tonalität“, die keine wirkliche leader kennt – selbst die gaststars, wie hier ron miles und die beiden illbient-turntabler logic und singe verschmelzen kollektiv im mix. ASCENSION spielt mit dem 7-ton-motiv von coltrane, entwirft dann aber völlig andere soundscapes, die übereinander, vorwärts und rückwärts laufen und in der postproduktion noch mal desorientierend verschichtet werden.

brandon ross (der hier für eine tradition steht, in der man auch vernon reid, jean-paul bourelly und andere hätte vorstellen können) ist ein sehr interessanter musiker, dem es völlig abgeht, sich in den vordergrund zu stellen. er tauchte ende der 1970er in new york auf und kam über leroy jenkins in kontakt zu einigen loftszene-prominenten. sein debüt im „new life trio“ (steve reid, david wertman) ist bereits sehr interessant, verfolgt eigentlich einen harmolodischen ansatz, auf e- und akustik-gitarre im wechsel.

danach ging es zu threadgill (der ja auch eine vorliebe für gitarristen gegenüber pianisten hat), in die downtown-szene und dann kam er zu seinem wohl bekanntesten job bei cassandra wilson (sehr feinfühlig, akustisch, souverän):

sehr schön finde ich aber auch das hier, ein duett mit henry grimes:

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