Antwort auf: West Coast Jazz: Black California – Hard Bop in den 50s / Avantgarde in den 60s

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Teil 3: Ornette Coleman, Don Cherry, Paul Bley – California Avantgarde (2/3)

Ornette Coleman (1930-2015) stammte aus Fort Worth, Texas. Als Jugendlicher begann er, Saxophon zu spielen, wechselte vom Alt zum Tenor, das er in Rhythm & Blues-Combos spielte. 1950 strandete er in Los Angeles, doch er kehrte zurück nach Fort Worth. 1954 ging er erneut nach Los Angeles, arbeitete als Liftboy und entwarf nebenher seine neue Musik, die jedoch keiner hören wollte. Anfang 1958 bekam er von Lester Koenig, dem Boss von Contemporary Records, die Gelegenheit, ein Album aufzunehmen. Vermittelt hatte der Bassist Red Mitchell, der Coleman in den Sessions beim Bassisten Don Payne hörte. Dieser spielt auf dem ersten Album, Mitchell selbst ist auf ein paar Stücken des zweiten zu hören. Die ersten beiden Alben sind noch vergleichsweise konventionell aber überzeugen noch heute mit ihrer Frische. Der nächste grosse Schritt war der Wechsel zu Atlantic, für das zwei weitere Alben in Kalifornien entstanden, bevor Ornette Coleman und sein Quartett – Don Cherry (t), Charlie Haden (b), Billy Higgins (d) – nach New York gingen. Doch die Atlantic-Alben werden vielleicht später erklingen.

Neben den beiden Contemporary-Alben entstanden in den ersten Monaten von Colemans Karriere auch Live-Aufnahmen mit Paul Bley. Im Gegensatz zum Pianisten auf dem Debut-Album, Walter Norris, wusste Bley, wie mit dieser neuen, harmonisch freieren Musik umzugehen war. An seiner Seite hatte er den Bassisten Charlie Haden, der anschliessend mit Coleman weiterzog. Das Bley Quintett mit Cherry und Higgins spielte einen Gig im Hillcrest Club, der nicht den erhofften Durchbruch brachte, aber die Aufnahmen sind doch eine tolle Ergänzung zu den frühen Studio-Aufnahmen, die ab dem zweiten Album alle ohne Klavier auskommen sollten.

Ein weiterer Pianist, John Lewis – im Modern Jazz Quartet Kollege des Bassisten Percy Heath, der auf Colemans zweitem Album spielt – gehörte zu den frühen Förderern von Ornette Coleman. Unter seinem Namen (aber möglicherweise ohne seine Mitwirkung) enttstanden nach dem Umzug nach New York Aufnahmen, die dem »Third Stream«, der Vermählung von Jazz und (moderner) Klassik zuzuordnen sind. Gunther Schuller holte zwei Angelenos, Ornette Coleman und Eric Dolphy, um ein Album mit bemerkenswerter, wenngleich nicht vollständig gelungener Musik einzuspielen – auch daraus hören wir eine Kostprobe.

Ornette Coleman in den späten Fünfzigern (Foto: William Claxton)

1. Ornette Coleman – Invisible (1958)
2. Paul Bley Quintet – I Remember Harlem (1958)
3. Paul Bley Quintet – The Blessing (1958)
4. Ornette Coleman – Compassion (1959)
5. Ornette Coleman – Turnaround (1959)
6. John Lewis – Variations on a Theme of Thelonious Monk (Criss Cross), Variants I–IV (1960)
7. Paul Bley Quintet (Ornette Coleman) – When Will the Blues Leave? (1958)

ORNETTE COLEMAN
1. Invisible (Ornette Coleman)

Don Cherry (t), Ornette Coleman (as), Walter Norris (p), Don Payne (b), Billy Higgins (d)
Contemporary Studio, Los Angeles, 10. & 22 Februar, 24. Mäzr 1958
von: Something Else!!!!! The Music of Ornette Coleman (Contemporary; CD: Fantasy/OJCCD)

Auf dem ersten Album klingt Ornette Colemans Gruppe nicht so anders als zahlreiche andere Hard Bop-Combos aus der Zeit: klassische Besetzung, gängige Blues- oder Songstrukturen, gut einstudierte Bläsersätze und kompetente Solisten. Don Cherry galt damals in der Hard Bop-Szene in Los Angeles als grosse Hoffnung. Coleman gibt da und dort die Bop-Phrasierung aber bereits auf, spielt rasche, verwischte Linien. Mit „Invisible“ öffnet das Debut-Album des grossen Ikonoklasten, die jeweils acht Takte der AABA-Struktur werden um einen halben Takt gestreckt (oder eher 7 Takte plus 6 Viertel). Wie das Thema sind auch die Soli sehr melodiös. Nach Ornette hören wir den Schlagzeuger Billy Higgins, der mit seinem federnden Puls in den frühen Jahren ein essentieller Sideman Ornettes war. Cherry (hier wohl der freieste Solist) folgt und Norris – ein guter Pianist aber hier etwas fehl am Platz – schliesst danach den Solo-Reigen ab. Seine Akkorde und das konservative Spiel von Don Payne engen die Höhenflüge der beiden Bläser auf dem ganzen Album etwas ein. Möglich dass Lester Koenig, Produzent und Inhaber von Contemporary, nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte. Dennoch ein bis heute frischer Auftakt zu einer langen und fruchtbaren Karriere.


PAUL BLEY QUINTET
2. I Remember Harlem (Roy Eldridge)
3. The Blessing (Ornette Coleman)

Don Cherry (t), Ornette Coleman (as), Paul Bley (p), Charlie Haden (b), Billy Higgins (d)
Live, Hillcrest Club, Los Angeles, Oktober 1958
von: The Fabulous Paul Bley Quintet (America; CD: Ornette Coleman Quintet – Complete Live at the Hillcrest Club, Gambit)

Von diesem Mitschnitt hörten wir bereits in der Hommage an Paul Bley eine Kostprobe, heute wollen wir die Aufnahmen ausführlich betrachten. Zum Auftakt gibt es Paul Bleys Feature in einer Komposition von Roy Eldridge. Bley ist der einzige Solist in diesem kurzen Stück, die Bläser stossen mit arrangierten Backings dazu. Eine sehr stimmungsvolle Sache, die auch Haden und Higgins glänzen lässt

Weiter geht es mit „The Blessing“, das auch auf dem ersten Contemporary-Album zu finden ist. Doch die Live-Version dauert doppelt so lange, gerät – auch dank Bley und Haden – viel freier und ist der Studio-Einspielung überlegen. Coleman spielt ein langes, fabelhaftes Solo, sehr entspannt und unglaublich melodiös. Was beim Hören seiner frühen Aufnahmen immer wieder frappiert: diese Stimme, so rein, so klar, so tief im Blues verwurzelt – so etwas hatte es seit Charlie Parkers frühen Aufnahmen mit Jay McShann im Jazz nicht mehr gegeben. Es folgt Don Cherry, auch er fügt sich in die entspannte Stimmung, zum Abschluss zitiert er ein kurzes Motiv aus dem Thema, mit dem Bley dann sein Solo öffnet, während Higgins zu den Besen greift und Haden ins halbe Tempo fällt. Bley löst in seinem Solo die Form viel stärker auf, bewegt sich weiter fort als die beiden Bläser – leider ist er im Mix viel zu leise. Ganz toll der Moment, wo nach einem langen Triller Higgins fast aussetzt und dann gemeinsam mit Haden in einen tollen Groove fällt, den Bley sofort aufgreift – Freiheit und in the pocket-Grooves unmittelbar nebeneinander.

Das Cover des CD-Bootlegs mit den gesamten Aufnahmen – das Photo des viel älteren Ornette ist selbstredend deplaciert.

ORNETTE COLEMAN
4. Compassion (Ornette Coleman)
5. The Turnaround (Ornette Coleman)

Don Cherry (t), Ornette Coleman (as), Percy Heath (b #4), Red Mitchell (b #5), Shelly Manne (d)
Contemporary Studio, Los Angeles, 23. Februar (#5) und 9. & 10. März (#4) 1959
von: Tomorrow Is the Question! The New Music of Ornette Coleman (Contemporary; CD: Fantasy/OJCCD)

Ornettes zweites Album markiert einen Schritt vorwärts. Percy Heath spielt auf den meisten Stücken des Albums Bass, der Kollege von John Lewis, der sich früh für Coleman und Cherry begeisterte. Shelly Manne, der bedeutendste Drummer des West Coast Jazz, macht sich hervorragend, er war immer ein grosser Zuhörer und mit seiner überragenden Musikalität passt er sich bestens in den unkonventionellen Rahmen ein, den Colemans Musik bietet.

„Compassion“ ist einem nicht genannten Pianisten gewidmet, „who wanted to play, but he had the wrong idea. He seemed to think human emotion and mind were just a matter of environment. He’s wrong and I had compassion for him“, wie Coleman in den Liner Notes von Nat Hentoff zitiert wird. Das Thema wird auf ungewöhnliche Art zwischen den Instrumenten verteilt, Heath und Manne machen den Auftakt, dann steigen die Bläser ein, die dann im Satz zu hören sind – das Intro ist nicht weit von Jimmy Giuffres Experimenten ein paar Jahre früher entfernt, an denen Shelly Manne auch teilgenommen hatte. Coleman spielt das erste Solo, bluesig, von Heath und Manne eher zurückhaltend begleitet. Das fehlende Piano öffnet neue harmonische – und melodische – Möglichkeiten, die Ornette auslotet, von Heaths eher konventionellem Spiel nicht behindert. Cherry folgt mit Dämpfer, danach beschliesst das Ensemble das Thema wieder gemeinsam.

„Turnaround“ ist eine der konventionellsten Nummern des Albums, doch gerade deshalb spiele ich sie, denn es handelt sich um einen Blues. Coleman kam 1930 in Fort Worth zur Welt, spielte zunächst Altsax, wechselte dann aufs Tenor und spielte auf dem Jahrmarkt ebenso wie mit einer Rhythm & Blues-Gruppe aus New Orleans und einer anderen aus Fort Worth. Die tiefer Verwurzelung im Blues haftete seinem Spiel zeitlebens an. 1950 strandete Coleman in Los Angeles, ging zwei Jahre später wieder zurück nach Fort Worth, um erneute zwei Jahre später wieder nach Los Angeles zu ziehen, wo er längere Zeit als bell boy arbeitete. Nur sehr wenige Musiker ermutigten ihn, sein Ding durchzuziehen, einer von ihnen war Red Mitchell, den Bassisten, den wir hier als ersten Solisten hören. Es folgen Cherry und Coleman, der erste verspielt (worauf Shelly Manne natürlich reagiert), der zweite klagend und intensiv. Zum Stück sagt Ornette gemäss Hentoffs Liner Notes, es trage den Namen „because the blues is a change of feeling which goes from one thing to another, It’s a 12-bar blues with a minor triad as a turnback.“

JOHN LEWIS
Variations on a Theme of Thelonious Monk (Criss Cross)
6.–9. Variants I–IV (Gunther Schuller)

Ornette Coleman (as), Eric olphy (fl, bcl, as), Robert DiDomenico (fl), Jim Hall (g), Eddie Costa (vib), Bill Evans (p), Scott LaFaro (b), George Duvivier (b), Sticks Evans (d), The Contemporary String Quartet: Charles Libove (v), Roland Vamos (v), Harry Zaratzian (vla), Joseph Tekula (vc)
New York, 20. Dezember 1960
von: John Lewis Presents Contemporary Music: Jazz Abstractions – Compositions by Gunther Schuller and Jim Hall (Atlantic; CD: WEA Japan)

„Criss Cross“ ist das Stück von Monk, auf dem diese Suite von Gunther Schuller beruht. Schuller bemühte sich damals schon seit einigen Jahren darum, Jazz und (moderne) Klassik zu vermählen, „Third Stream“ war das Etikett, das diesen Versuchen verpasst wurde, an denen auch Musiker wie Miles Davis oder Charles Mingus beteiligt waren.

Im ersten Satz hören wir sich überlappende Soli von Coleman, Dolphy (bcl) und Eddie Costa, begleitet nicht nur von der Rhythmusgruppe mit zwei Bässen sondern auch vom Contemporary String Quartet. Dabei unterläuft Coleman ein Fehler, er beendet sein Solo zu früh und fängt erst nach einer längeren Pause, als Dolphys Solo längst an Fahrt gewonnen hat, wieder zu spielen an (und Bill Evans streut in die Begleitung Monks „Misterioso“ ein). Im zweiten Satz werden Monks Kürzel zu flächigen Streicherpassagen ausgedehnt, Coleman und Scott LaFaro greifen solistisch mit kurzen Einwürfen ein. Im dritten Satz steht wieder die Improvisation im Mittelpunkt, wir hören Dolphy (bcl) und LaFaro in einem längeren Dialog, punktiert von Streichern, Sticks Evans Drums und der gesamten Rhythmusgruppe. Der Schlusssatz besteht – nach einigen Takten Gitarre (mit Vibraphon) – aus einer Kollektivimprovisation (Dolphy diesmal an der Flöte), die sich zunehmend verdichtet und auf den Changes des Monk’schen Themas aufbaut.

Wir sind hier weg von Kalifornien, aber Lewis war wie gesagt ein früher Förderer Colemans, von Colemans weiteren frühen kalifornischen Aufnahmen – namentlich den ersten beiden Atlantic-Alben, werden wir sicher in einer folgenden Sendung ein paar Auszüge hören. Und zudem hören wir hier noch einen Angeleno, dessen massgebliche Aufnahmen allerdings allesamt aus New York (oder Europa) stammen: Eric Dolphy.


PAUL BLEY QUINTET (ORNETTE COLEMAN)
10. When Will the Blues Leave? (Ornette Coleman)

Don Cherry (t), Ornette Coleman (as), Paul Bley (p), Charlie Haden (b), Billy Higgins (d)
Live, Hillcrest Club, Los Angeles, Oktober 1958
von: Ornette Coleman – Coleman Classics Vol. 1 (Improvising Artists Inc; CD: Ornette Coleman Quintet – Complete Live at the Hillcrest Club, Gambit)

Nach der etwas kopflastigen – aber doch sehr anregenden und reichhaltigen – Musik von Gunther Schuller kehren wir zurück in den engen, lärmigen Club und hören noch einmal die Combo, die Paul Bley im Herbst 1958 zusammengestellt hat. Wie „The Blessing“ stammt auch „When Will the Blues Leave?“ vom Debut-Album auf Contemporary, die grossartige Live-Version dauert allerdings diesmal fast dreimal länger. Hadens warmer Bass lässt schon die Atlantic-Alben erahnen. Wie er mit Higgins das Fundament bildet, wie Bley offene Akkorde spielt, die die Bläser nicht einengen, wie diese zwischenzeitlich in den Dialog treten, wie Haden immer wieder einen Orgelpunkt spielt, Klavier und Bläser mit kleinen Riffs einfallen, später Hadens Bass-Solo mit Doppelgriffen, Stops, einer langen Passage, die an „You Are My Sunshine“ angelehnt scheint, und dann im abschliessenden Thema Higgins’ überschwänglicher Rumpel-Beat, der fast aus den Fugen gerät – das ist alles sehr, sehr schön gemacht. Mir fällt es heute jedenfalls schwer, die Empörung, die damals über Ornette Colemans Musik geherrscht hat, nachzuvollziehen (auch wenn ich mich selbst anfänglich schwer tat) – das ist Jazz, swingt, hat starke Blues-Wurzeln … und ist schlicht von betörender Schönheit!

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