Antwort auf: Blindfoldtest #30 – gypsy tail wind

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stefane
Silver Stallion

Registriert seit: 24.07.2006

Beiträge: 7,142

Bin jetzt endlich dazugekommen, mir in Ruhe die Auflösung durchzulesen.

stefane
Track 1
Schöner Einstieg mit dem Glöckchengeläut, dem leisen Piano und dem gestrichenen Bass. Dann wird der Bogen zur Seite gelegt und der Bass wird singend, treibend, sehr klangfarblich und melodisch. Eine eher weiche, einnehmende Trompete, dann ein sehr zurückhaltendes und abgedunkeltes Sopransaxophon, gefolgt von der Flöte, auch die mit wenig Schärfe gespielt. Die Percussion sehr prominent, was mich normalerweise stört, hier aber überraschenderweise überhaupt nicht. Die Basslinien habe ich doch schon mal gehört: „The Creator Has a Master Plan“ revisited? In Minute 11 steigt dann das Intensitätsniveau, wenn das Piano mit seinen Blockakkorden und der Bass wunderbar zusammengehen. In Minute 13 mit dem Gebläse und den Klangfarben schießt mir dann schon wieder irgendwie Pharoah Sanders in den Kopf.
Gefällt außerordentlich, auch wenn das abrupte Ende vielleicht besser hätte gelöst werden können.
Würde das Stück gegen Ende der Siebziger verorten. Vielleicht ist hier gar keine „lupenreine“ Jazzband unterwegs, sondern eher Leute aus dem Soul- und Funk-Umfeld?

Cecil McBee also.
George Adams am Sopransaxophon. Er hat ja auch in der Fatback Band gespielt. War meine Funk-Assoziation also zumindest teilweise berechtigt.
Ansonsten kenne ich von den Mitwirkenden nur noch Billy Hart als Sideman von Jimmy Smith, Eddie Harris und Eddie Henderson.
Habe mir den Track inzwischen noch mehrmals angehört, gefällt immer noch sehr.
Welche Platten von Cecil McBee, die in eine ähnlich Richtung gehen, sind denn sonst noch empfehlenswert?

stefane

Track 2
Solo Piano. Locker-flockig, sehr gefällig, aber mit einem schönen, leicht treibenden Fluß. Insgesamt kommt mir das vom Klangbild aber etwas zu „clean“ und von der Harmonik etwas zu konventionell daher.

Onaje Allan Gumbs, den Namen hatte ich schonmal gehört, wußte bisher aber wenig über ihn.
So richtig packt mich der Track aber immer noch nicht.

stefane
Track 3
Hier gefällt mir das Klavier schon deutlich besser: hämmernder, kompromißloser und dissonanter als im Track zuvor. Gleichzeitig höre ich beim Piano einen dezent karibischen, afrokubanischen und brasilianischen Touch zugleich, im Hintergrund ein dezenter Samba Beat. Auch die Percussion sehr beschwingt. Das Saxophon mit freien Passagen, aber überhaupt nicht harsch. I wanna dance!
Würde ich in den Siebzigern verorten.

Steve Reid also.
Daß ich Arthur Blythe am Altsaxophon nicht erkannt habe, ist natürlich unverzeihlich.
Sehe gerade, daß „Rhythmatism“ 2019 auf Soul Jazz Records als Vinyl Reissue erschienen ist. Kommt auf den Zettel.

stefane
Track 4
Stimmungswechsel. Eine schwermütige Stimmung durch den gestrichenen Bass, das Saxophon eher getragen und mit sehr organischen, langgezogenen und fließenden Bögen. In Minute 5 dann sehr schön das zurückgenommene Piano mit den dezent tänzelnden Becken im Hintergrund.

John Stubblefield, auch das ein für mich eher Unbekannter.
Joe Chambers an den Drums. Habe gerade nochmals in Wayne Shorters „The All Seeing Eye“ und „Adam’s Apple“ reingehört. Mit dem Wissen jetzt kann man den Drumsound natürlich deutlich erkennen.

stefane
Track 5
John Coltranes „Naima“?
Gedämpfte Trompete; schönes, perlendes Piano; ein wunderbar singender Bass, also eigentlich alles da; berührt mich aber trotzdem irgendwie nicht so richtig.

Billy Gault, war mir bisher völlig unbekannt. Auch die sonstigen Mitglieder der Band sind mir höchstens dem Namen nach geläufig.
Auch hier nochmals mehrere Male angehört, und ich muß mich etwas korrigieren: gefällt mir inzwischen immer besser, scheine mich irgendwie auf den Sound eingegroovt zu haben.

stefane
Track 6
Und nun wieder ein Stimmungswechsel: Ein dichter Funk-Rhythmus-Teppich hält das Stück am Köcheln. Auch hier wieder das Sopransaxophon mit einer tragenden Rolle. Insgesamt klingt das an manchen Stellen wie eine etwas abenteuerlustigere Filmmusik einer Siebziger Jahre-Großstadt-Fernsehkrimi-Reihe aus den USA. Normalerweise gefällt mir so etwas eher nicht, weil zu konfrontativ und „in the face“, hier hat das aber einen gewissen Charme.
Electric Miles?

Hal Galper hatte ich bisher eher als Sideman verortet. Daß er doch einige Platten als Leader aufgenommen hat, war mir nicht bewußt.
Die Brecker Brothers hätte ich hier niemals erkannt.

stefane
Track 7
Schönes Sopransaxophon zum Einstieg. Der Drummer gefällt mir: treibt das Stück nach vorne, aber auf eine sehr tänzelnde Art. Auch das Piano ganz wunderbar. Geht sehr an mich.
Aus den Siebzigern?

The Visitors, auch hier muß ich mich wieder als Ignorant outen.
Sehe gerade, daß sie in den Siebzigern auf Muse Records drei weitere Platten veröffentlicht haben. Ähnlich empfehlenswert?

stefane
Track 8
Sehr atmosphärisch, eigentlich genau mein Ding. Bass und Drums gehen auch ganz hervorragend zusammen. Weiß allerdings nicht, was ich vom Piano halten soll, das für mich den Track etwas ruiniert: irgendwie seltsam gläsern und manchmal aufgesetzt wirkend.
Definitiv aus den Siebzigern. An den Drums könnte Jack DeJohnette sitzen.

Schon wieder Cecil McBee am Bass.
Wußte nicht, daß Lonnie Liston Smith einen Bruder hat, der auch Musiker ist. Der Piano-Sound gefällt mir immer noch nicht so richtig.

stefane
Track 9
Toll. Seltsam und großartig, wie hier alles auseinanderstrebt, die Violine und das zweite Saiteninstrument ihr Ding durchziehen, die Congas und Percussion sich davon aber nicht beirren lassen, so daß der Groove nie versiegt.

Immer noch toll!
Michael White war mir bisher nur als Sideman von Pharoah Sanders geläufig.
Sehe gerade, daß er auch an mehreren Platten von John Lee Hooker mitgewirkt hat, vermutlich über die Connection zu ABC Records, bei denen John Lee Hooker Anfang der Siebziger unter Vertrag war.
John Lee Hooker – Settin‘ on Top of the World

Aus John Lee Hookers 74er-Platte „Free Beer and Chicken“. Michael White ist nach ungefähr eineinhalb Minuten an der elektrischen Violine zu hören. Auch durch das Xylophon und die Kalimba ein sehr ungewöhnlich instrumentierter Bluestrack.
Schön, solche Querverbindungen entdecken zu können.

stefane
Track 10
Und es geht weiter mit einem Cello, dessen Tonspektrum ich ja sowieso liebe; dann ein Bass, trocken aufgenommen, schnalzt aber trotzdem schön.
Fällt mir schon von der zeitlichen Einordnung ziemlich schwer.

Abdul Wadud, auch das wieder eine echte Entdeckung.
Finde den Track immer noch wunderbar: eine großartige Balance zwischen Sprödigkeit und ungewöhnlichem Groove.
Schade, daß es das Album nirgends zu kaufen gibt.

stefane
Track 11
Das Piano hat teils einen schönen Professor Longhair New Orleans Twist, sanft aber unaufhaltsam rollend. Auch die Bläsersätze gehen an mich. Das Schlagzeug „knallt“ mir aber etwas zu sehr.
USA, Mitte der Siebziger, ziemlich sicher.

Kann jetzt nach mehrmaligem Hören die Südafrika-Assoziation nachvollziehen, vor allem das Piano klingt für mich aber immer noch mehr nach New Orleans.
Schon wieder Ron Burton am Piano, der mir schon bei Track 7 sehr gut gefallen hatte. Sehe gerade, daß er ein Mitstreiter von Rahsaan Roland Kirk war.

stefane
Track 12
Schöner Solo Piano-Ausklang. Sehr variabel, manchmal verspielt, dann wieder mit viel Attacke so richtig hingelangt. Hält die Spannung über die gesamten nahezu sieben Minuten aufrecht, auch wenn der Pianist an manchen Stellen demonstrieren mußte, daß er technisch alles drauf hat.

Kenny Barron, wäre ich auch niemals draufgekommen. Habe von ihm allerdings bisher auch nur drei Platten aus den Achtzigern („Scratch“, „1+1+1“, „What If?“).

Nochmals mein Dank an @gypsy-tail-wind für den interessanten und lehrreichen BFT.

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"Bird is not dead; he's hiding out somewhere, and will be back with some new shit that'll scare everybody to death." (Charles Mingus)