Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!

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redbeansandrice

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friedrich

@vorgarten

friedrich
Den Titel des Albums finde ich etwas sehr programmatisch. Klingt ja wie ein Manifest. Da muss jemand schon sehr von sich selbst und seiner Sache überzeugt sein. Das löst bei mir fast schon einen Abwehrreflex aus.

ich komme ja ursprünglich aus westfalen. jedesmal, wenn da einer mehr will als eine kartoffel ausgraben, stehen da 3 ältere männer in dunkelbunten anoraks, schütteln das haupt und raunen: nu mal nicht gleich abheben. bleib ma auf dem teppich. da fragt man sich irgendwann, auf welcher grundlage wer den teppich gewebt hat. vielleicht war der jazz 1959 so langweilig, dass er mal eine neue form annehmen wollte. aber ganz konkret war der protagonist wohl unschuldig, er hat sich nicht allzu viel darum geschert, ob irgendeine kluge pr-agentur bei atlantic die flucht nach vorne angetreten und vom shape of jazz to come geredet hat. standen halt genug männer in dunkelbunten anoraks herum, die meinten, die vier jungs da könnten nicht spielen. jedem sein abwehrreflex.

Mein Beinahe-Abwehrreflex wird ja nicht durch die Kartoffel oder was auch immer Ornette da ausgraben will ausgelöst, sondern durch den Titel, unter dem dieses Gewächs verkauft wird. Den Anspruch, der damit formuliert wird, muss die Musik dann erstmal erfüllen. Oder: Wie soll man diese Musik unter dieser Bedingung unvoreingenommen hören?
Man kann hier nachlesen, dass der Titel tatsächlich eine Marketing-Entscheidung von Nesuhi Ertegun war. Ich denke, unter Marketing-Gesichtspunkten war das zwar gewagt aber auch geschickt, denn damit schob Ertegun dieses Album ins Rampenlicht, machte Hörer neugierig und verschaffte damit Ornette Publikum.
Ob Jazz 1959 langweilig war? Mingus veröffentlichte Ah-Um, Miles Kind of Blue. Da hat sich Nesuhi Ertegun mit The Shape … ganz schön weit rausgelehnt. Und hatte Erfolg!
Die Titel anderer früher Ornette-Alben sind btw auch recht selbstbewusst. Ich denke die 50er waren insgesamt eine sehr optimistische und fortschrittsgläubige Zeit, nicht nur im Jazz, auch in der bildenden Kunst und in der Architektur. Auch in der Wirtschaft. Zukunft verkaufte sich gut. Der Kater kam später.

die Marketingstrategie war ja letztlich bei Contemporary auch schon aehnlich wie bei Atlantic… ich hab das immer so ein bisschen wie die Weihnachtsgeschichte gelesen (dieses kleine Kind im Viehtrog soll der Erloeser sein?)… gerade Ende der 50er, in dieser fortschrittsglaeubigen Zeit, war es irgendwie revolutionaer zu sagen, nein, die naechste Welle der Jazzavantgarde wird nicht gewaltiger als Stan Kenton, nein, es werden nicht Stravinsky und Charlie Parker mit elektronischen Instrumenten zu einer Einheit zusammengefuegt… schaut euch diesen unscheinbaren schwarzen Aufzugchauffeur mit seinem Plastiksaxophon an, wie er den Jazz mit den einfachsten Mitteln von der Essenz her erneuert… sowas

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