Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!

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gypsy-tail-wind
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Ich lese hier übrigens stets mit, auch wenn gerade kaum klassische Musik läuft … aber diese alpha-Neuheit legte ich gestern zur Nacht zum zweiten Mal ein:

Ich bin versucht zu sagen: völlig unspektakuläre Musik – aber das wäre wohl kreuzfalsch, denn sie ist reich an feinen Details und wunderbar gespielt, im Wechsel von kleinem Orchester – Ghielmi und sein Il suonar parlante Orchestra, acht Streicher, Oboe, Fagott, Cembalo und Percussion sowie der Leader an der Gambe (inkl. pardessus de viole) – und Solo-Stücken, in denen Ghielmi von Luca Pianca an der Erzlaute oder Theorbe begleitet wird. Die Liner Notes hat Ghielmi gleich selbst beigesteuert und nimmt damit einen Faden wieder auf, den er anscheinend schon früher zu spinnen anfing: die in den letzten 50 Jahren längst gefestigte Gamben-Spieltradition der HIP-Leute sei für französische Musik falsch, da seien ganz andere Techniken nötig und auch verbürgt, eben nicht nur im schon lange bekannten Pamphlet „Defense de la Basse de Viole“ von Hubert le Blanc aus dem Jahr 1740, sondern auch in Anmerkungen/Spielanweisungen in den Noten diverser Stücke von Marais, aus der Hand von Schülern des Meisters, aber auch in Drucken. Solche Autographen erforscht Ghielmi am Mozarteum in Salzburg und kommt zum Schluss, dass die Spielanweisungen sich bei angepasster Spielweise (ein viel leichteres Bogenspiel, er vergleicht es mit dem Anschlagen von Saiten mit einem Plektrum, wobei der Bogen eben quasi zum Plektrum werde) sich fast von selbst ergeben/umsetzten lassen. Ich will jetzt gewiss nicht behaupten, dass ich das alles so genau hören könnte, ich bin bei weitem kein Gambenspezialist, werde wegen Ghielmi auch sicher nicht all die Sachen von der älteren Generation in die Tonne werfen – aber ich finde solche Entwicklungen schon sehr interessant. Und die Zeit ist ja längst reif, um die Erkenntnisse von Harnoncourt, Leonhardt, Brüggen, den Kuijkens etc. auch als eine Etappe einer Entwicklung zu historisieren und ihren teils heiligen Ernst inkl. Absolutheitsanspruch nicht mehr so Ernst zu nehmen … was ja nicht mit einer Entwertung einhergehen muss (auch nicht soll), eigentlich ganz im Gegenteil: sie haben längst ihren Platz, sind aber halt auch nicht aus der Welt und drum Teil des grossen Kontinuums, in das auch Mendelssohn oder Edwin Fischer gehören, wenn es z.B. um Bachs Musik geht. Und der „Bach-Richter“ natürlich auch, obwohl ich den Graf Johann Nikolaus gerade im Grab schäumen höre, wenn ich dies tippe.

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