Antwort auf: 2020: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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Anthony Braxton Standard Quartet – 3-day-residency – Wels, Schl8hof – 23.–25.01.2020

Anthony Braxton – alto, soprano & sopranino saxophones
Alexander Hawkins – piano
Neil Charles – bass
Stephen Davis – drums

opening sets:

Do 23.1. – KGB: DD Kern (d), Susanna Gartmayer (bcl), Thomas Berghammer (t)
Fr 24.1. – SKD: Hermann Stangassinger (b), Marina Dzukljev (p), Christof Kurzmann (elec)
Sa 25.1. – TRIO NOW: Tanja Feichtmair (as), Uli Winter (vc), Fredi Pröll (d)

Um es gleich vorwegzunehmen: die drei Abende – die dritte der drei 3-day-residencies, die das Braxton Quartett der Reihe nach in Warschau (Pardon To Tu), London (Cafe Oto) und Wels spielte – mit Braxton waren grossartig. Sie gehören in Sachen Jazz sicherlich seit mehreren Jahren zum Besten, Inspiriertesten und Inspirierendsten, was ich hören konnte. Dem Herrn und seinen überaus wachen Begleitern über sechs Sets zuhören zu können, zu erleben, wie er dabei Ideen und Konzepte entwickelte, war unglaublich toll!

Vielleicht am schönsten war, dass im Rahmen der drei Abende etwas Neues entstanden ist. Die Tour öffnete, wie ich hörte, mit einem etwas verhaltenen Abend. Das Trio – besonders Charles/Davis, die davor mit Braxtons Musik nicht sehr vertraut waren – habe sehr zurückhaltend gespielt, es gab Standards – aber auch Jazz-Klassiker, ungefähr das Material, was in den verschiedenen Real Books zirkuliert also. Etwas über 150 Stücke hatte Braxton dabei, jeden Tag setzte er sich hin und arbeitete Routinen und kleine Ideen betreffende Arrangements aus, die dann beim Soundcheck rasch besprochen wurden (die „performance notes“, ein A4-Blatt pro Set, verteilte er dann nebst einer Selitst auf einem weiteren Blatt, an die anderen), das eine oder andere Stück mit einem schwierigen Thema (Monks „Eronel“) wurde auch rasch ein wenig geprobt. Am zweiten Abend brachte Braxton dann zum ersten Mal ein eigenes Stück mit, das mangels eines richtigen Titels „Fusion Piece No. 1“ hiess und sich an bereits erprobten Methoden orientierte (ich stelle von den Anmerkungen von Braxton und von seinen Noten keine Fotos ein, das schiene mir falsch/frech). Am dritten Abend kam dann gar ein neues System zum Einsatz („Fusion Piece No. 2“), das Braxton wohl auch im Rahmen des Soundchecks kurz erläutert haben muss.

Jedenfalls inspirierte ihn das Spiel mit dem Trio, so erzählte Alexander Hawkins mir, so sehr, dass über die Standards hinausgehen wollte, mit dem Trio auch ein wenig eigene Musik spielen – und womöglich, wenn es die Kalender der drei gefragten Musiker denn zulassen, wenn es trotz des grossen geographischen Abstandes denn irgendwie machbar wird, auch künftig wieder spielen will. Das hiesse dann, dass Braxtons Musik gespielt wird, denn die Sache mit den Standards ist eine, die Braxton alle paar Jahre mal machen will, und dann ist das auch wieder erledigt. Die anfängliche Ansage – die 9 Gigs und that’s it – ist also zumindest fraglich geworden. Aus meiner Sicht wäre es ganz grossartig, ginge es weiter, denn im Laufe der drei Abende dachte ich tatsächlich mehrmals an das grosse Braxton Quartett mit Marilyn Crispell, John Lindberg bzw. Mark Dresser und Gerry Hemingway, das ich leider im Konzert nie erleben konnte.

Ebenfalls fein: Braxtons Tonmeister reiste mit und nahm alle neun Abende auf – ein Box-Set ist geplant, und ich werde mich drauf stürzen, sobald es herauskommt!

Den Auftakt am ersten Abend machte das Trio KGB, aus dem ich immerhin zwei Leute schon ein klein wenig kannte, Drummer Kern und Trompeter Berghammer. Noch nie gehört hatte ich Gantmayer, die an der Bassklarinette zu hören war. Das Trio spannte Bögen, verband repetitive Muster mit Grooves, war eher nicht an freien Ausbrüchen interessiert sondern an kleinen Verschiebungen, an Erweiterungen, Veränderungen dessen, war zu Beginn mal gesetzt wurde. Ein schönes Konzept, aus dem sich ein feines Intro in die drei Tage ergab.

Nach einer Umbaupause dann Braxton. Im Konzert gehört hatte ich ihn erst zweimal, einmal im Trio mit Taylor Ho Bynum und Gerry Hemingway in Willisau (als er kurzfristig für Cecil Taylor einsprang), das andere Mal in Zürich beim Taktlos-Festival mit dem Quartett mit Taylor, Ingrid Laubrock und Mary Halvorson (direkt nach dem Set musste Hawkins solo auf dieselbe Bühne – und glänzte). Beides waren tolle Konzerte, aber Braxton ist bei mir seit vielen Jahren ein Musiker, um den ich immer wieder kreise. Oft bin ich begeistert, aber so manches verstehe ich dann wiederum überhaupt nicht (ich sollte z.B. mal wieder einen Anlauf in Sachen Ghost Trance Music unternehmen).

Am ersten Abend kannte ich nahezu alle gespielten Stücke – und das machte den Einstieg natürlich noch leichter, als es rein vom Format her für mich eh schon war. Nachdem die ersten Konzerte noch länger gedauert hatten (am ersten Abend spielte man zweieinhalb Stunden am Stück, am zweiten dann zwei Sets à sechs Stücke) fand das Quartett in der Zwischenzeit die passende Form: 5 Stücke pro Set. Kein einziges wurde an den neun Abenden mehr als einmal gespielt – die 150 Stücke hätten auch noch für ein paar weitere Abende ausgereicht. Los ging es mit „Have You Met Miss Jones“, in dem die vier alle Tore öffneten. Hawkins spielte schon hier das erste von vielen phänomenalen Soli, bei denen er auch dann Räume auftat, wenn er in der Form blieb – ein Spiel mit Nuancen des Tempos, mit Verdichtungen, Entspannungen, mit Versatzstücken und manchmal auch mit Zitaten (am zweiten Abend streute er mal das Motiv der Klaviersonate Alban Bergs ein). Die Aufstellung auf der Bühne war bemerkenswert, die besten Plätze vorne links: Braxton stellte sich zwar in die Mitte, aber drehte sich um 90 Grad zum Klavier. Das war die erste und zentrale Achse. Die andere ging schräg nach hinten ab, von Hawkins zu Charles/Davis (mit denen er ja schon öfter gespielt hat, auch auf CD und auf Tour mit Mulatu Astatke), die Blicke gingen immer wieder hin und her, da die Abläufe spontan gestaltet wurden gab es manchmal auch ein rasches Zeichen oder ein Kopfnicken – dann begann das nächste Solo, setzten die Fours mit Davis ein, oder fand man zurück ins Thema. Andere Male geschah das alles spontan: die Soli bewegten sich weg von der Form, und irgendwann steigt Braxton halt mit der Bridge ein – und natürlich klappt auch so etwas wie am Schnürchen.

Aber zurück zum ersten Abend, der ging nämlich mit einer unglaublich schönen Version von „Django“ weiter, dem Stück von John Lewis. Ob dieser in Braxtons Orbit eine Rolle spielt, weiss ich nicht, aber es würde bestens passen. Das Quartett spielte das Stück frei, blieb aber in der Stimmung ganz nah an der Vorlage. In den „performance notes“ steht: „after the head, the music opens up into collective improv. We will later play the theme again afterwhich Nels plays a solo and ends the piece (Alex will give light support under Nels).“ Und ja, Neal hiess auch in den Ansagen im Nels oder Nils – ich habe keine Ahnung, ob er sich selbst so nennt oder ob das Braxtons patentierte Zerstreuung (er ist schon auf so vieles fokussiert, Namens ich ja echt nicht so wichtig). Das war eine höchst konzentrierte Performance von überirdischer Schönheit und Klarheit. Es folgte „Easy Living“, die nächste Ballade, die aber wieder aufgebrochen und gedehnt wurde. Hier war ich schon für alles entschädigt, was die Reise (drei Stunden im Zug mit Gruppen, die schon morgens um 9 eine Flasche Wein nach der anderen öffnete, die Segnungen des Sports halt) so mit sich brachte. Und noch viel mehr als das: das war exakt meine Musik – genau die Art und Weise, Standards und Jazzklassiker zu spielen, wie mir das einst als Amateur auch vorschwebte. Bloss wurde das von Braxton und dem Trio natürlich auf einem Niveau getan, von dem fast alle anderen nur Träumen konnten.

Das Set brachte dann noch Monks „Eronel“, wo ich nicht sicher war, ob Braxton den „head“ nicht etwas besser hätte üben müssen. Doch als ich am Abend drauf nach dem Konzert mit Alex zusammensass, meinte er: das Stück hätten sie beim Soundcheck geprobt, und er gehe davon aus, dass Braxton exakt das gespielt hätte, was ihm vorgeschwebt sei. Das mag gut sein, denn bei der Rekapitulation des Themas spielte er dieses viel näher an Monks Vorlage, die „fluffs“ von davor waren also vielleicht tatsächlich keine?

Auch das letzte Stück des ersten Sets war besonders, „Dee’s Dilemma“ aus der Feder von Mal Waldron (das ich zwar kannte, aber nicht drauf kam, was es ist) – aufgenommen von Art Blakeys Messengers mit Jackie McLean und vom Komponisten selbst mit Gigi Gryce – und an diesen hatte ich schon davor, bei „Easy Living“ wohl, mal einen Moment lang gedacht. Hier gab es in den performance notes die einzige weitere Anmerkung (sonst nur Solo-Abfolgen), nämlich dass nach der Rekapitulation am Ende die Takte 37-40 wiederholt würden und daraus ein „Fade-Out“ werden solle. Zu den performance notes ist anzumerken, dass Braxton diese nur als Vorschlag versteht, als Plan, den es keinesfalls unbedingt exakt umzusetzen gälte. So spielte er auch mal selbst das erste Solo, wo Neal oder Alex als erste standen. Er ist seinen Leuten aber auch nicht böse, wenn sie sich vom Skript verabschieden. Dasselbe gilt wie es scheint auch für seine Kompositionen, sie sind eher Vorschläge, die mehr oder weniger komplett oder korrekt umgesetzt werden können.

Das zweite Set öffnete mit Lester Young („Too Marvelous for Words“) und den Red Hot Chili Pepeprs („Fuck You“, in Jazzkreisen besser bekannt als „Bemsha Swing“ von Thelonious Monk – hier fächerte Braxton das Thema auf, spielte hinter und neben dem Piano). Dann folgte eine phänomenale Ballade, ein mir zuvor nicht bekanntes Stück, „I’m So Glad We Had This Time Together“, die als Closing-Song einer TV-Show (Carol Burnett Show) in den USA super bekannt wurde. Danach folgte Dave Brubecks „The Duke“ – was auch wieder perfekt passte, denn im Laufe des ganzen Abends wurde oft klar, wie Braxton und Lee Konitz – besonders der spröde späte – doch irgendwie verwandt sein müssen, nicht nur in der Tongestaltung, auch in der Phrasierung, der Trockenheit, der Art und Weise, wie sie musikalisch das krasseste Zeug machen können, Dir dabei aber unverwandt in die Augen blicken können, als laufe gerade nur das normalste ab, was das Leben so zu bieten hat – ein Understatement, bei dem der Genius sich irgendwie hinter einer Matter-of-Fact-Maske verbirgt, und es noch nicht mal nötig hat, rasch hervorzublicken oder die Augen funkeln zu lassen.

Als Closer gab es dann Andrew Hill, „Pumpkin“. Und das war dann auch eine Frage, die ich mit Alex später diskutierte: bis wohin gehen eigentlich die „Jazzklassiker“? Bis zu Monk, zu Mingus? Oder auch zu Dolphy, zu Hill und noch weiter? Standards im engen Sinn sind das ja nicht (selbst bei Keith Jarrett gab es hie und da Jazz-Tunes, z.B. Benny Golsons „Whisper Not“, das als Titelstück einer Aufnahme des Standards Trios fungierte), aber wie reichhaltig diese Musik immer noch ist, wurde im Laufe der drei Abende wieder einmal überdeutlich – auch weil kaum Stücke auf dem Programm standen, die übermässig bekannt wären (im Fall dieses ersten Abends allenfalls die beiden Set-Opener – die Lewis-Ballade war dermassen grossartig und dabei eigenwillig aufgemacht, dass sie fast schon wie ein neues Werk klang).

Sehr balladesk sei der Abend gewesen meinten die zwei Bekannten, die schon in Warschau und London dabei gewesen waren. Da ginge noch mehr – das fand ich kein überraschendes Fazit, aber für mich war auch das, was ich an diesem ersten Abend zu hören bekommen hatte, unfassbar gut. Die offene Art, mit dem Material umzugehen, Braxtons offensichtliche Liebe zur Melodie, seine überaus eigenwillige Phrasierung, das Playing, die Interaktion das Quartetts – besser kann man Jazz eigentlich gar nicht spielen! Ich wankte jedenfalls völlig beseelt in die Nacht hinaus …

Am Tag danach lief ich ziellos durch Wels, das eigentlich eine Art innenstädtischer Parkplatz ist. Es gibt neben ein paar an sich repräsentativen Plätzen (der eine ist der totale Parkplatz, auf dem anderen war immer noch eine riesige Eislaufbahn für Kinder in Betrieb, auch von der Weihnachtsdeko war immer noch viel zu viel dran) die alte Ringstrasse (an der mein Hotel lag), neben restaurierten, teils umgenutzen Altbauten auch zahllose Bausünden. Ein paar Türme stehen noch, im Minoritenkloster und in der Burg ist das Stadtmuseum eingerichtet (ich habe es nicht besucht), beim Weinphilosophen (verkauft Bücher und Weine) erstand ich für einen Fünfer die Romantrilogie von Manès Sperber, beim Stadtarchiv und der Stadtbücherei bewunderte ich die Pfauen, die wie es scheint frei ums Gebäude laufen.

Das Opening-Set am zweiten Abend absolvierte ein Trio, aus dem ich nur Kurzmann kannte, der hinter einem Tischchen mit diversen verkabelten Gerätschaften Platz nahm. Hermann Stangassinger spielte den Kontrabass und Marina Dzukljev griff in den Flügel. Das Konzept der drei Support-Acts war es, Leute mit irgendeiner Form von Bezug zu Braxton zu engagieren. Elisabeth Harnik hätte auch unter ihnen sein können, doch spielte sie an einem der drei Abende ein Konzert in Tasmanien. Bei diesem zweiten Trio fand ich besonders Dzukljev ziemlich toll, aber wie die drei Klänge übereinander schichteten – obwohl zumindest oberflächlich viel experimenteller als was Braxton tat – hatte auch wieder etwas sehr Kommunikatives. Dzukljev präparierte das Klavier teils laufend um und entlockte ihm eine Fülle an Klängen, die mit Kurzmanns Effekten und dem oft gestrichenen Bass verschmolzen.

Braxton (das Foto stammt vom dritten Abend, ich sass am zweiten ähnlich gut, aber in der zweiten Reihe) war am zweiten Abend dann unter dem „spell“ von Coltrane, zumindest im ersten Set, das mit „Like Sonny“ öffnete und mit „Equinox“ fortfuhr, für das Braxton wieder Anweisungen notiert hatte: „Start off correctly – suddenly like a switch is turned on – the music goes open using the rhythmic motif in the beginning. later everything opens up. NO solos. Als drittes folgte danach ein Stück, das schwer an eine Hymne, einen alten Spiritual erinnerte (perfektes Material für die Alben von Charlie Haden/Hank Jones, dachte ich) – doch wie Alex mir später erklärte, war das die Titelmelodie von Bing Crosbys Radio-Show, „Where the Blues of the Night Meets the Gold of the Day“ (Turk-Ahlert-Crosby – letzterer steuerte die Lyrics bei). In den Notizen von Braxton steht dazu: „After theme, let’s have more ballad like sound world that contrast w/the improvisation on Equinox. Again no real extended solos. Please – no monk materials – we’ll do that tomorrow“. Danach folgte „Fusion Piece No. 1“, das erste Original, das bei der Tour gespielt wurde – vermutlich auch das erste Mal, dass das Stück gespielt wurde. Die Spielanweisung dafür: „choose any music material that we played earlier for source material“ – das Stück an sich nur ein Ablaufplan mit Symbolen, die verschiedene Ereignisse triggern sollen (z.B. das Einstreuen einer existierenden musikalischen Fragments, eben aus einem der davor schon gespielten Stücke). Den Ausklang machte dann Monk, „Off Minor“, und damit war auch der Bogen zum relativ konventionell gespielten Set-Opener wieder geschlossen.

Dieses Set hatte es in sich. Es passierte so viel mehr als am ersten Abend. In Equinox wurde also das rhythmische Motiv länger als Basis verwendet, doch die Musik war völlig offen, Braxtons „Language Music“ kam zum Einsatz, eine Art Konzept mit grundsätzlichen Techniken (siehe oben – ich höre gerade „staccato sounds“ von der Pianistin Gabriella Smart, die für ezz-thetics auf einer neuen CD ein Werk von Ierkki Veltheim einspielte, das sich mit der Verlegung der Telegraphenverbindung von Port Darwin nach Port Augusta via Alice Springs befasst). Diese Konzepte sind nicht neu sondern eher eine Art Versuch, das Basisvokabular, woraus Musik sich zusammensetzt, aufzulisten – die Elemente können zusammengefügt werden, sie wurden am zweiten und dritten Abend in Wels in mehreren Stücke eingesetzt, meist indem Alexander für Neal und Steve die Nummern anzeigte, manchmal gab auch Braxton einen Anstoss, manchmal liefen mehrere „Schienen“ nebeneinander oder „language music“ kam zum Einsatz, während Braxton beim Thema verweilte … so ist Braxtons Liste eine Art Anleitung, die ermöglicht, spontan etwas zu tun, mitten im Stück – oder auch das Stück in eine ganz neue Richtung zu drängen. „‚Dot‘ sounds“ gab es z.B. auf öfter gemeinsam von zweien oder dreien, während die anderen beiden oder vierte gerade etwas anderes spielten. Nachdem schon „Equinox“ quasi zu freier Musik wurde, ging das im ersten Fusion Piece weiter. Dessen Score besteht aus drei Seiten mit jeweils vier „Systemen“ (ohne Notenlinien aber mit A, B, C, D daneben, wohl für die vier Musiker) und einer Art linearen Notation mit eigener Farbe pro Stimme und verschiedenen Ereignissen, die quasi als Unterbrüche der Linien funktionieren. Improvisiert im Sinne von „ein Solo spielen“ wird hier nicht, aber die Vergegenwärtigung, die Umsetzung der Noten erfolgt natürlich quasi improvisatorisch, denn so etwas wie Tonhöhen sucht mann vergebens, es gibt bloss eine Art Zeitachse und eben die kunstvoll eingestreuten „Ereignis“-Anweisungen.

Das zweite Set öffnete rasant mit „Groovin‘ High“ – und mit einem solchen schnellen, aus dem Bebop stammenden Stück, konnte das anwesende Publikum wohl in aller Regel viel mehr anfangen als mit den ganzen Balladen, bei denen wenigstens teils die Experimentierlust viel deutlicher wurde – aber halt auf eine zurückhaltende, ja stille Art. Die nächste bezaubernde Ballade folgte auf dem Fuss mit „Skating in Central Park“ – natürlich wieder aus der Feder von John Lewis. An diesen ersten beiden Abenden wechselte Braxton recht regelmässig zwischen seinen drei Instrumenten, hier z.B. spielte er das Sopranxax. Für das mittlere Stück des Sets griff er wieder zum Altsaxophon – ich kannte das Stück nicht, doch wurde schwer an Paul Desmond erinnert. Es handelte sich um „When Joanna Loved Me“ aus dem Jahr 1964, bekannt gemacht von Tony Bennett und in der Tat gerne von Desmond gespielt. Braxton streute ein paar kleine Motive und Figuren ein, die mir direkt aus Desmonds Vokabular entliehen schienen. Dann folgte nochmal eine Ballade, und gleich wieder eine überraschende Wahl, nämlich „Unforgettable“ – wenn man’s denn erkannte, denn die Melodie tauchte erst im Laufe des Stückes auf: „open improvisation and I will get the melody inside of the open space. also, bring in a little harmonic support underneath the melody. Afterwhich we will go back to improv. The melody will not repeat.“ Als Closer folgte dann – der perfekte Abschluss des Abends, der ja mit Coltrane begonnen hatte – Sonny Rollins‘ „The Bridge“. Auch hier wieder eine Spielanweisung, die sich sehen lassen kann: „We will start w/the chords, but suddenly different chords will emerge that have nothing to do with anything we know about. Finally we repeat the theme. Who knows – maybe the metric rhythm will also disappear“. Und klar, daraus wurde eine umwerfende Performance!

Nach dem zweiten Abend sass ich noch lange mit Alexander in der Bar im Schl8hof wir redeten über Braxton und andere musikalische Themen, die uns gerade beschäftigen, zwischendurch gab es eine Runde Schnapps mit Dzukljev (die fand, das sei kein richtiger Schnaps) und Gartmayer, vor allem aber erzählte Alex viel von den vergangenen Tagen mit Braxton, vom gemeinsamen Musizieren, von der riesigen Freude, die Braxton an der Arbeit mit dem Trio habe, von der Möglichkeit eben, dass es darüber hinaus eine weitere Zusammenarbeit geben könnte.

Alex erzählte auch, dass Braxton zu all den Standards, die er im Gepäck hatte, die Lyrics auswendig kenne, und er erläuterte mir auch einiges zum Saxophonspiel von Braxton, etwa seiner Phrasierung – und auch seiner Vorliebe, weit, ja ganz weit hinter dem Beat zu spielen – und dazu fügte Alex an: das sei etwas, was die jungen Musiker heute überhaupt nicht mehr kennen würden, diese Art hinter dem Beat zu phrasieren (es gab an einem der Abende mal einen aberwitzigen Moment, als Alex sich inspirieren liess, und Garner-mässig fast einen Schlag hinterher spielte – dass Charles und Davis beide einen enorm soliden Beat haben (und Charles wie es scheint obendrein das absolute Gehör) hilft bei sowas natürlich. Wo ich das mit dem Gehör erwähne: Alex erzählte auch, dass Braxton an einem der Abende ein Stück auf dem „falschen“ Saxophon blies, also eine Quarte bzw. Quinte neben der vorgesehen Tonart. Charles sei in der eigentlichen Tonart geblieben, worauf Hawkisn mit der linken (Bass/Akkorde) Hand in der Tonart des Basses, mit der rechten in der Tonart von Braxton gespielt habe … sowas kriegt man natürlich bei keiner Jam-Session ohne Absprache und direkt auf der Bühne hin, es demonstriert aber gerade den Geist, der in der Musik dieses Quartetts weht, und das hat wiederum viel, ja alles damit zu tun, weshalb der Abstecher nach Wels ein so grossartiges Erlebnis war.

Als am dritten Abend ein gutes Powertrio eröffnete, hatten die Vorzeichen sich gedreht: nach den über weite Strecken atemberaubenden Dingen, die das Braxton Quartett am Vorabend gemacht hatte, hätte aber auch fast jeder vergleichsweise alt ausgesehen. Das focht das TRIO NOW nicht weiter an, Tanja Feichtmair (as), Uli Winter und Fredi Pröll – allesamt Leute, die ich noch nicht kannte, spielten ein gutes, recht langes Set, das trotz klarer Free Jazz/Power Improv-Haltung keine Langweile aufkommen liess – zupackend, direkt, schnörkellos, und dank des Cellos klanglich doch eine Spur abseits der üblichen Pfade. Einmal mehr ein feiner Auftakt in den Abend, das Konzept, das man sich in Wels ausgedacht hatte, klappte bestens.

Dann nochmal Braxton – und nachdem schon für den zweiten Abend etwas Neues angekündigt war (via Alexander und andere Insider, mit sowas wie Ansagen schlägt sich da richtigerweise keiner rum), gab es nun – nicht Monk, wie wie Bemerkung zum einen am vorletzten Abend gespielten Stück insinuierte, sondern noch mehr Eigenes, und dieses Mal gleich nach einem neuen System ausgearbeitet, zu dessen Erarbeitung Braxton durch das Hawkins-Trio und die gemeinsamen Konzerte inspiriert wurde. Gibt es eine grössere Ehre? Braxton hatte jedenfalls die Setlist und die „performance notes“ für diesen letzten Abend schon am Vormittag vor dem vorletzten Abend gemeinsam mit dem Programm für diesen vorbereitet, um am letzten Tag Zeit zu haben, um das neue System erstmals aufs Papier zu bringen.

Doch los ging das erste Set mit Joe Hendersons Stück „Jinkrisha“, gefolgt von „Sweet and Lovely“ – letzteres ein Stück, das auch kaum ohne Monk zu denken ist, klar. Beide wurden in der üblichen Form (Head, Solos, Head) gespielt. Danach folgte das neue Original, schlicht „Fusion Piece No. 2“ betitelt (oder auf dem vier Seiten umfassenden Score „Funion No. 2 (test case)“. Die Noten sind ähnlich wie die oben beschriebenen auf vier Zeilen angeordnet (aber nur ein „System“ pro Blatt, also insgesamt vier Zeilen Musik für alle vier, wieder mit A, B, C, D am Rand). Es gibt jetzt aber Abschnitte, Fermaten, Angaben zur Lautstärke, die Farbensind mehr geworden, nicht jede Stimme hat eine Farbe sondern vieles ist schwarz gehalten und die Farben wohl Akzente. Eine Legende erklärt auf einem fünften Blatt diverse Buchstaben, die im Score zu finden sind, z.B. „K – symbol for mutable improv“ oder „K(S) – softer than the group dynamic“, analog „K(L)“, wohingegen „K(O)“ für „open dynamics“ steht. Es gibt zudem aber auch geläufige Angaben wie P, MF oder F für Piano, Mezzoforte und Forte. Auf den Zielen sind Punkte, Wellenlinien und mehr verteilt, aber auch hier keine Tonhöhen, keine eigentlichen Notenlinien – aber auch wieder Bewegungsngaben und Zeichen, die wohl socwas wie repetierte Töne oder Stakkatos zeigen sollen. Alexander meinte nach dem Konzert jedenfalls, es sei im Laufe des Stückes stets völlig klar gewesen, wo im Score man gerade sei.

Das Set ging dann mit „It’s the Talk of the Town“ weiter und schloss mit Coltranes „Moment’s Notice“, das unglaublich intensiv wurde. Schon vom ersten Abend an gab es bei Hawkins auch mal Cluster, für die die Handkante oder gleich der ganze Unterarm auf den Flügel knallte, es gab aberwitzige Läufe, Verdichtungen wie man sie aus dem Changes-basierten Spiel kaum kennt. Aber zugleich spielte es keine Rolle, ob deshalb nun die Form aufgebrochen wurde oder nicht, ob die anderen die Tonart verlassen, den Changes nicht mehr folgen oder nicht. Es ist gerade diese Offenheit, die eben auch in der Verpflichtung zum freien Spiel eine Art von Zwang sieht, die ich bei den Konzerten dieser Gruppe so beglückend fand. Die Spielanweisung (die einzige ausführlichere des Sets) lautete, dass nach den Soli eine offene Kollektivimprovisation folgen solle – „to see what happpens. We will either repeat the theme – or not.“ Lapidarer kann man die vorherrschende Freiheit kaum ausdrücken. Braxton spielte am letzten Abend glaube ich nur Altsax, ausser in einem Stück spielte er Sopran und zwischendurch kurz das Sopranino (von da stammt das vertikale Foto oben).

Das zweite Set war dann das letzte, und natürlich zog allmählich das Bewusstsein auf, dass es nun bald zu Ende ging – gerade so, wie ich nach dem ersten Set des ersten Abends völlig geflasht war und dachte: Wow, und das jetzt gleich noch fünf Mal! Das Set begann zwar klassisch, aber inzwischen war die Stimmung auf der Bühne so gelöst, dass auch Charles oder Davis mal eine „language music“-Anweisung verteilten, und dass auch bei einem alten Standard alles möglich schien – zugleich aber nichts sein musste. „I’ll Never Smile Again“ machte den Auftakt. Dann folgte mit „Strange Meadow Lark“ noch so ein Stück, das live zu hören man nie erwartet hätte – und klar, da ist wieder die Verbindung zu Desmond (und schon das zweite Brubeck-Stück). In der Mitte stand „Thanks for the Memory“, das wieder als freie Improvisation aufgezogen wurde, in deren Mitte Braxton das Thema blies, ohne darüber zu improvisieren – quasi nur ein Gruss aus der anderen Welt, mitten in die freie Improvisation hinein.

Der Abschluss war dann einmal mehr grossartig. Ich hatte inzwischen in diesem Set jegliches Gefühl verloren (ich wusste ja um die stets fünf Stücke, und in der Regel schlichen wir in der Pause rasch auf die Bühne, um die neben dem Klavier am Boden ausgebreiteten „performance notes“ und/oder die Selist zu knipsen) und es war mir nicht mehr klar, ob das schon der Abschluss war, als „Way Out West“ von Sonny Rollins erklang (ausgleichende Gerechtigkeit, einmal mehr davor Coltrane, und dann auch Rollins – gefällt mir, dass da offensichtlich keine Wahl getroffen wurde, und das war alles gewiss kein Zufall, bei der grossen Arbeit, die Braxton sich mit der Vorbereitung machte). Es gab Soli und dann – einmal mehr stand da „then let’s see what happens“ – eine kollektive Improvisation. Das war aber noch nicht der Schluss, und ich hätte es ahnen sollen, denn Alex hatte was von Mingus gesagt. Als Krönung gab es ganz zum Ende also noch „Peggy’s Blue Skylight“, wieder in konventioneller Form vom Ablauf her, head-as-p-b-fours w/d-head – aber der Geist, der durch diese Gruppe wehte, war längst einer, bei dem schlicht alles möglich schien (und davon auch stets einiges eintraf).

Eine absolut grossartige Erfahrung, die mir Braxton in vielerlei Hinsicht neu erschloss, vor allem auch als Instrumentalist. Dass es auch möglich war, die Noten zu den neuen Stücken zu sehen, von Alex zudem sogar ein paar Erläuterungen zur Notation zu kriegen, machte das ganze noch faszinierender. Ich hoffe sehr, dass die Zusammenarbeit in irgendeiner Form weitergeht, Alex scheint dafür offen zu sein (ich war so frei, ihm einzubläuen, dass er gefälligst jeden Gig absage, wenn Braxton rufe). Drei enorm bereichernde Abende mit vielen geradezu sensationellen Momenten.

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