Antwort auf: Jazz: Fragen und Empfehlungen

#10965615  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,341

kurganrs

gypsy-tail-wind Ok, das ist dann ein anderes Elemental und eins der typischen PD-Piraten-Label, also auch eher Finger weg … keine Ahnung, was für Quellen die nutzen, in der Regel wohl einfach frühere CD-Ausgabe (Domino, Solar, Phono sind andere, ich glaube das sind die Nachfolgelabel von Lonehill/Lone Hill, Gambit etc., zu denen auch Essential Jazz Classics, American Jazz Classics, Groove Hut, usw. gehören). Diese ganzen Label beherrschen (im Gegensatz zu Reel to Reel, Membran und den anderen mit 17 Alben auf 3 CDs) die Kunst, als anständige Reissues zu erscheinen (mit Liner Notes, ansprechendem Design usw.), aber da ist die Hülle am Ende of ziemlich leer, wenn man genauer hinschaut (die Liner Notes liest …)

Wir müssten eine Liste mit den „bösen“ Jazz-Label machen, so zur groben Orientierung.
Neuer Thread oder hier?

Lieber nicht, weil die Sache nicht so eindeutig ist und am Ende ein jeder für sich entscheiden muss, was gekauft wird und was nicht. Den Nachweis über illegale Operationen zu erbringen ist so mühsam, dass es fast nie geschieht. Im Klassik-Bereich führte Music&Arts (ein inzwischen praktisch verschwundenes, irgendwie wohl staatlich finanziertes Unternehmen aus den USA) mal eine „hall of shame“ – aber dort hatten sich Leute die Mühe gemacht, einzelne Reissues zu vergleichen (was nicht soo schwierig war: wenn ein kleines Label Aufnahmen des rührigen Pianisten X nach jahrelanger Recherche und sorgfältigen Transfers ab Schellack oder was weiss ich herausbringt, und wenig später ein italienisches Label – dort waren bis irgendwann Mitte der 90er die Gesetze besonders lasch, danach zog die Truppe nach Andorra, obwohl im Klassik-Bereich einige dieser Label aktiv blieben – genau dasselbe Programm heraushaut und auf dem Cover womöglich noch vollmundig was von „remastered from original tapes“ behauptet, dann ist der Fall auch zu deutlich … gab es im Jazz auch mal, mit dem Parker/Gillespie Town Hall-Konzert, das nach einer irren Geschichte auftauchte und von Uptown vorbildlich editiert wurde – wenig später lag eine Raubkopie von Definitive vor, und auch die – und die waren wirklich der Bodensatz – behaupteten stets was von „digitally remastered“, was ja eh eine Leerformel ist, die alles und nichts bedeuten kann).

Eigentlich liegt der Fall doch recht einfach:

Es gibt offizielle Reissues (nicht mehr viele, weil Streaming usw.) – Universal, Sony, Warner, viele sind nach der grossen spätkapitalistischen Flurbereinigung ja nicht mehr übrig.

Es gibt Reissue-Labels, die Lizenzen kaufen und für eine bestimmte Zeit (und/oder Anzahl Tonträger) das Recht kaufen, eine Aufnahme zu vertreiben (ev. kriegen sie dazu auch Zugang zu Masterbändern, oft aber auch eher nicht, aber vielleicht immerhin zu Archiv-Kopien von Mastertapes oder sonstwas „low generation“-mässigem) – ein Beispiel dafür wäre Mosaic Records, auch das japanische Reissue-Programm von Solid funktioniert so (die machen aber kleinere Label, nicht Blue Note, um letzteres kümmert sich Universal inzwischen aber auch in Japan nicht mehr, wie es scheint).

Es gibt die Label, die im legalen Rahmen nicht mehr geschützte Aufnahmen neu herausbringen (50 Jahre bis 2013, also Grenze 1963, danach trat zum wiederholten Mal ein Disney/Beatles-Gesetz in Kraft, das die Schutzfrist verlängerte) – da wären z.B. das verschwundene Label „Classics“ (Chronological Classics, eine Rhythm & Blues-Serie gab’s da auch), oder eben Avid: die mach(t)en wirklich eigene Transfers und operieren somit im legalen Bereich.

Dann gibt es diejenigen Label, die eigentlich dasselbe tun, aber vermutlich einfach frühere CD-Ausgaben rippen (was illegal ist). Auch illegal ist das Wiedergeben von Liner Notes, denn die sind – das wissen alle Theaterleute wegen des Brechtklans – bis 70 Jahre nach dem Tod des Autors geschützt. Cover sind an sich auch länger geschützt, aber das kümmert inzwischen keinen mehr (mal werden nur die Logos wegretuschiert, mal der Bildausschnitt etwas geändert, früher wurden öfter ähnliche Cover mit anderen Bildern hergestellt, aber das sieht man nicht mehr). Vermutlich hat die Erfahrung halt gezeigt, dass man damit durchkommt.

Unter letzteren gibt es die ganze Skala von
– totalem Schrott (z.B. Reel to Reel und alle diese so-und-so-viele-Alben-auf-so-und-so-vielen-CDs-Labels, aber teils auch Membran, bei denen in den 10-CD-Wallet-Boxen, die ganz ohne Infos daherkommen, auch schon Mal MP3 verwendet werden … Membran hatte aber z.B. auch längere Zeit ein Programm mit ordentlich lizenzierten Reissues von Candid-Alben, es produziert(e?) unter dem Etikett New Classical Adventure/NCA auch eigene neue Aufnahmen im Klassik-Bereich, die manchmal auch ganz gut sind, und es hat wohl gelegentlich auch schon offizielle Reissues gemacht (aber die Furtwängler-Box, die Merkel dem Paparatzi schenkte, gehört sicherlich nicht dazu) über
– Schrott (Domino, American Jazz Classics, Lone Hill usw.) und
– halbwegs okay (Fresh Sound – Jordi Pujol behauptet ja, er hätte viele „seiner“ Aufnahmen in Form von Bändern von den Rechteinhabern erworben … keine Ahnung, ob das stimmt, der Clou ist ja gerade: da ist nie was klar veri- oder falsifizierbar … was man Pujol aber lassen muss: auch wenn manche CDs klanglich nicht super sind, die Dokumentation ist in aller Regel gut, und ja, er hat auch offizielle Reissues gemacht, z.B. die Nocturne Box, von der er uns aber Vol. 2 – weil offiziell halt doch nicht so rentabel ist? – schuldig blieb) bis zu
– vermutlich sehr okay/hochpreisig (Be!Jazz – kann gut sein, dass deren eine Sachen auf offiziell lizenziert sind, aber das Reissue von Barney Wilens „Zodiac“ ist jedenfalls ein Bootleg as bootleg can be, auch wenn es vermutlich – ich kenne es nicht – qualitativ gut gemacht ist … ich weiss auch nicht, ob die Finder’s Keepers-Scheibe von François Tusques „Le Nouveau Jazz“ nicht auch in diese Kategorie – „hochwertige Bootlegs“ – fällt).

Bei Vinyl wäre ich im allgemeinen noch viel vorsichtiger, sehe aber v.a. den Grund nicht, warum sich jemand diese Dot Time Reissues kaufen sollte (die in der Regel wohl ab denselben CD-Kopien erstellt werden wie früher halt die CD-Reissues der oben genannten Label wie Domino etc.), weil man ja in der Regel auch von BN-Alben z.B. Carrère-Pressungen zu akzeptablen Preisen kriegen kann (klar, die sind nicht wirklich super, aber der neue Schrott ja erst recht nicht), und vieles kriegt man ja Second Hand.

Zudem, als letzter Punkt noch: das alles betrifft ja nur die grossen Klassiker bzw. die klassischen Label und Leute, v.a. den Hard Bop, und auch dort in der Regel eher nicht die wirklich obskuren Sachen … und auch klar, wenn man physische Tonträger kaufen will, ist es frustrierend, dass so vieles nicht mehr zu haben ist. Aber dafür gibt es ja inzwischen Discogs (andere Seiten, die kommerziell second hand CDs und Platten verkauften, sind leider grossteils verschwunden, in den USA gibt es noch Dustygroove, priceminister.com taugt hie und da noch, war vor 10 Jahren um Welten besser) – und das erstellen einer Sammlung ist ja auch kein instant gratification-Ding – auch wenn heute alle meinen, alles müsse doch so sein …

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba