Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Zürich, Tonhalle-Maag – 17.11.2019

Ivo Pogorelich Klavier

Johann Sebastian Bach „Englische Suite“ Nr. 3 g-Moll BWV 808
Ludwig van Beethoven Klaviersonate Nr. 11 B-Dur op. 22

Frédéric Chopin Barcarolle Fis-Dur op. 60
Frédéric Chopin Prélude op. 45
Maurice Ravel „Gaspard de la nuit“

Gestern also zum Rezital von Ivo Pogorelich – und um es gleich vorwegzunehmen: Ich fand das alles andere als unproblematisch. Es handelte sich wohl mehr als bei jedem Rezital, das ich bisher gehört habe, um ein klassisches Virtuosenkonzert, ein Schaulaufen der Extraklasse (die Pianisten, die ich bisher im Konzert gehört habe, von Maurizio Pollini über Grigory Sokolov, Krystian Zimerman. Arcadi Volodos und Maria João Pires bis hin zu Igor Levit oder Lucas Debargue gestalten ihre Programme wenigstens dann, wenn ich sie hörte, schon ziemlich anders).

Los ging es mit Bach, die dritte Englische Suite. Ich hatte sie überhaupt nicht im Ohr, war in den ersten Minuten überrascht von der Klarheit, mit der Pogorelich die Linien herausarbeitete, von der knackicken Phrasierung, die die Entwicklungen des Kontrapunktes aufs Schönste herausstrichen. Doch dann gab es immer mehr Pedal, immer grössere pianistische Gesten, immer mehr rhythmische Verdrehungen – kurze Verzögerungen, Be- und Entschleunigungen – und die Musik wurde hochromantisch, fiel rhythmisch auseinander. Letzteres geschah natürlich nicht, denn Pogorelich war ja allein auf der Bühne und es machte schon den Anschein, dass er wusste, was er tat – bloss verstand ich es nicht ansatzweise. Gegen Ende liess er dann die Twists wieder, die kehrte Klarheit kehrte noch einmal zurück – doch nein, das zog er nicht bis ganz zum Schluss durch sondern wiederholte sein Spiel: von der Klarheit zur alles verwischenden grossen Geste.

Weiter ging es mit Beethoven, schon die erste Phrase spielte Pogorelich anders als ich sie je gehört habe (in wohl über 20 angehörten Zyklen auf Tonträgern), verhuscht irgendwie, aber auch da wieder ins Ganze eingebettet, in sein Ganzes. Ich hatte mich nach dem Bach auf diese Fortsetzung gefreut, denn Pogorelichs Ansatz – und besonders auch seine Tongestaltung – schien mir zu Beethoven besser zu passen. Der Ton, den er dem Flügel entlockte, war äusserst reich an Farben, aber auch sehr dick. Das sollte sich – von den fast ohne Pedal gespielten erwähnten Bach-Passagen abgesehen – durch das ganze Konzert ziehen. Nach dem Bach, der im Kern schon wie Liszt klang, gab es nun also Beethoven à la Liszt – aber gut, das war ziemlich interessant, die rhythmischen Verschiebungen leuchteten mir wenigstens teilweise deutlich mehr ein als davor bei Bach.

Nach der Pause folgte mit Chopins Barcarolle mein Highlight des Abends. Hier passte Pogorelichs Ansatz nun wirklich. Der üppige Ton, die grosse Geste in der Gestaltung, der Klangreichtum – das war ziemlich überwältigend. In der leiser angegangenen Prélude Op. 45 nahm Pogorelich sich dann für einmal zurück – doch hier wurde mir noch einmal (bei Beethoven war mir das noch nicht klar geworden bzw. wurde es erst jetzt, im Rückblick, klarer) eine Schwäche deutlich: in langsamen Passagen, in leiseren Passagen, konnte keine Spannung erzeugt werden – es geschah gerade nicht, dass man den Atem anhielt und gebannt lauschte, eher schien es mir, als plätschere die Musik dahin, als warte man bloss auf das nächste Aufbäumen des nur halbwegs gezähmten Wildfangs, den Pogorelich da unter seinen Pranken bändigte. Das war schade, fand ich, aber wohl auch nicht anders geplant bzw. angelegt in der Art und Weise, in der er auftritt.

Auf das letzte Werk – aus dem Nachmittag war inzwischen Abend geworden, inklusive Pause dauerte das ganze bis dahin schon zwei Stunden – hatte ich noch einmal Hoffnung gesetzt. Doch die sollte leider wieder enttäuscht werden. Ravels Gaspard erfordert Präzision, ja Schneid. Hier störte mich wieder der enorm farbenreiche Klang – wenn quasi permanent die ganze Palette zum Einsatz kommt, fehlen Differenzierungen. Nicht dass die nötigen Bereiche des Spektrums nicht dabeigewesen wären – aber alle anderen waren eben auch permanent da, es fehlten Heraushebungen, Fokussierungen. Und so klang auch der Ravel am Ende wie durch die Lupe von Liszt gespielt (der späte Liszt wäre wohl von den harmonischen Entscheidungen Ravels nicht sonderlich überrascht gewesen, aber um den so fahlen und gerade in der Fokussierung so faszinierenden späten Liszt geht es hier ja nicht, sondern um den Tastenlöwen in den Salons, den herumreisenden Superstar, der überall eine Sensation war, wo er auftauchte). So wuchtete sich Pogorelich also durch Ravels Stück – und da fiel eine weitere Schwäche auf: leise ging schon (ohne Spannung, wie gesagt), laut ging sowieso – aber auch da, die Zwischentöne fehlten oft. Im ganzen Abend kippte die Dynamik gerne innert zwei, drei Sekunden oder noch schneller vom Piano ins Fortissimo, die Standardlautstärke (ein paar Male „zersägte“ er auch verklingende Töne, sehr unschön – und ein oder zweimal fand ich den Flügel tatsächlich so laut, dass es fast schmerzte).

Das Publikum focht all das nicht an – eine derart postwendende Standing Ovation (es dauerte wohl auch nur 2 oder 3 Sekunden, bis die Ersten aufstanden) erlebte ich in Zürich noch nie, das ist eigentlich bei dem zurückhaltenden Publikum hier gar nicht möglich. In der einen Rezension zu Ibragimova stand etwas von Standing Ovation schon vor der Pause – die gab es am zweiten Abend nicht, auch nicht am Ende, obwohl sie beide Male viel verdienter gewesen wäre als bei Pogorelich. Doch warum sich das so verhielt, ist wiederum auch klar. Der Tastenlöwe, der sich auf der Bühne aber sehr zurückhaltend gibt – die Idiosynkrasien beschränken sich inzwischen fast auf die Musik, die aussermusikalischen beschränkten sich darauf, wie er die Noten hinter dem Flügel auf den Boden schmeisst und den Notenblätterer dann anweist, sie an den richtigen Ort zu legen – wohl von ihm aus in den toten Winkel) … der grosse Tastenlöwe kriegt den Publikumszuspruch, diejenigen, die sich ganz der Musik hingeben, bringen die Leute halt nicht zum Brüllen. Und das ist ja eigentlich auch gut so.

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