Antwort auf: Jazz: Fragen und Empfehlungen

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gypsy-tail-wind
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Ich hab mal hier rüber verschoben @kurganrs … in meinem Fall praktisch nicht mehr, aber früher hing ich an gewissen Abenden daheim vor dem Radio. Auf DRS 2, dem Kultursender der SRG (heute heisst die SRF und das Radio heisst auch irgendwie anders, es gibt in der Benennung der TV- und Radiosender keinen Unterschied mehr, denen hat schon vor längerem jemand mächtig in Hirn geschissen, und dennoch musste man neulich an der Urne noch ihre Abschaffung verhindern) gab es dienstags eine stündige Jazzsendung (Portraits, Neuheiten, was weiss ich, das änderte auch hie und da und wurde als erstes abgesetzt), dann Donnerstag oder Freitag von ca. 22:35 bis Mitternacht stets einen Live-Mitschnitt von einem Schweizer Festival, die vom Radio ausführlich dokumentiert werden … der Live-Mitschnitte wurde dann von ca. 22:35 bis 23:30 gekürzt, im Anschluss die Dienstagssendung im Kurzformat versorgt (Jazzklassiker – halbe Alben vorstellen, seltsames Konzept) … und bis irgendwann Ende der 90er gab es auf DRS 3, dem Pop-Sender (gleiches Nummernschema wie bei SWR) sonntags von 22 bis 24 Uhr das „Jazz Special“, in dem oft in der zweiten Hälfte auch ein Festivalmitschnitt lief … zudem kriegte ich über die Antenne auch SWR 2 und – nicht rauschfrei – DLF rein, und auch da guckte ich stets nach Live-Mitschnitten oder seltener -Übertragungen. Letztere gab’s damals bei DRS 2 noch regelmässig, aus Willisau wurde z.B. abendlich ab 22 Uhr berichtet, manchmal auch bis nach Mitternacht, und wenn man die Aufnahmen mit den späteren Ausstrahlungen kombinierte konnte man sich nicht selten komplette Konzerte bzw. Sets zusammenmontieren (das konnte ich in ein paar Fällen auch nachprüfen, weil ich so ab 2001 bei einigen wenigen dieser Konzerte anwesend war, während daheim die 90er oder 120er-K7 programmiert war). Dann hatte ich irgendwann Kabelradio (kein TV zuhause, also auch keinen Kabel-Anschluss) und damit auch Zugang zu weiteren Sendern. Bayern 2 brachte selten Jazz, aber die Sender der französisch- (RSR/Espace Deux) und italienischsprachigen (RTI/Rete Due) Schweiz phasenweise fast täglich ab 22 oder 23 Uhr … Ö1 nicht zu vergessen, die vierstündige Jazznacht, die oft auch einen Live-Mitschnitt enthielt … dazu gab es natürlich hie und da auch andere Sendungen oder Reihen von Interesse, bei DRS 2 z.B. mal eine Serie, in der JazzmusikerInnen im Gspräch und mit viel Musik ein Vorbild präsentierten (z.B. Irène Schweizer über Dollar Brand).

Das alles war wohl ein Jahrzehnt lang, als das Budget noch viel kleiner (Schüler, dann Student mit Teilzeitjob) – und das Internet zwar schon knapp erfunden, aber noch über Telefonleitungen und so … – war eine ziemlich Passion bei mir. Das führte dann auch zu einzelnen Trades mit Leuten, die ich aus Foren oder Mailing-Listen kannte (so kam ich z.B. vor wohl 15 Jahren in den Besitz des Graz-Konzertes von Jimmy Giuffre, das neulich bei ezz-thetic auch ordenltich herausgebracht wurde). Das Besitzen von eigenen Sachen, die nicht überall schon im Umlauf waren (also Konzerte von CH-Festival, die all die deutschen Fans noch nicht kannten) öffnete da auch ein paar Türen … doch dann kam Highspeed-Internet auf, an der Uni (noch viel schneller und gratis …) hatte ich dann manchmal eine externe HD mit, um Dinge runterzuladen – von Dimeadozen, einer Bit-Torrent-Seite, auf der nur Musik toleriert wird, die nie in irgendeiner Form kommerziell erhältlich war (und wo sich auch diverse Bands/Künstler sperren liessen, d.h. deren Aufnahmen wurden ebenfalls nicht toleriert) … da tauchten dann Unmengen Sachen auf, was das analoge „traden“ – und bald auch das Anfertigen eigener Aufnahmen (ich war inzwischen auf Minidisc umgestiegen) – ablöste und die Menge von Musik exponentiell wachsen liess (praktisch jeder Ton von Coltrane, der mal bei einem Konzert mitgeschnitten wurde, hunderte Miles Davis- oder Bob Dylan-Konzerte, was weiss ich … und eine Zeit lang auch viel rares aus den späten 60ern und frühen 70ern, den wilden Jahren des deutschen Free Jazz … aber auch quasi im Live-Tagebuch Konzerte, die Leute mit kleinen Aufnahmegeräten aus dem Publikum mitschnitten und -schneiden, oft durchaus im Wissen der Musiker).

Heute ist das Angebot hier leider dürftiger geworden, den einen Abendtermin bei DRS 2 (SRF 2 Radio oder wie immer deppert das jetzt halt heisst – ich glaub Fr war’s schon immer?) gibt es zwar noch, aber die ausführlichen Festival-Übertragungen kaum mehr. Bei den grossen Festivals wird zwar immer noch viel (bzw. das ganze Hauptbühnenprogramm) mitgeschnitten, aber bei anderen taucht der Übertragungswagen nur an einem Abend auf. Es gibt wohl auch nicht mehr zwei Fulltime-Jazz-Redakteure, die das gemeinsam stemmen können … aber die Aufnahmen tauchen dennoch weiterhin auf, weil sie auch anderswo laufen. Ich verfolge das alles aber längst nicht mehr, weil die Sammlung in der Zwischenzeit so bekloppt gewachsen ist, dass ich eigentlich damit für den Rest meiner Tage mein eigenes Radio machen könnte – blöd nur, dass ich arbeiten muss ;-)

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