Antwort auf: Funde aus dem Archiv (alte Aufnahmen, erstmals/neu veröffentlicht)

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gypsy-tail-wind
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kurganrs

gypsy-tail-wind … das ganze Sortiment des NJA … in der Reihe sind noch ein paar andere feine Sachen erschienen!

@ gypsy-tail-wind: welche kannst Du empfehlen?

Meine Liste gibt her:

Adderley, Julian „Cannonball“ – One for Daddy-O: Live in Amsterdam 1960 & 1966 – Jazz at the Concertgebouw
Baker, Chet – Indian Summer: The Complete 1955 Concerts in Holland – Jazz at the Concertgebouw
Basie, Count – Blues Backstage: Live in Amsterdam 1956 – Jazz at the Concertgebouw
Blakey, Art – Justice: Live in Amsterdam, November 1959 – Jazz at the Concertgebouw
Boy’s Big Band – Return: Live Recordings 1965-1966
Byas, Don / Jacobs Brothers, The – Groovin‘ High: Live in Haarlem 1964
Davis, Miles – So What: The Complete 1960 Amsterdam Concerts – Live at the Concertgebouw
Fitzgerald, Ella – ’s Wonderful: Live in Amsterdam 1957 & 1960 – Jazz at the Concertgebouw
Gordon, Dexter – In the Cave: Live at Modern Jazz Club Persepolis, Utrecht, January 20, 1963
Jazz at the Philharmonic – Live in Amsterdam 1960 – Jazz at the Concertgebouw
Jazz from Carnegie Hall (Konitz, Lee / Sims, Zoot) – Star Eyes: Jazz from Carnegie Hall Live in Amsterdam 1958 – Jazz at the Concertgebouw
Johnson, J.J. – What’s New: The J.J. Johnson Quintet Live in Amsterdam – Jazz at the Concertgebouw
Mengelberg, Misha / Nordijk, Piet – Journey: Live in Amsterdam 1966 – Jazz at the Concertgebouw
Mobley, Hank – Hank Mobley in Holland: To One So Sweet Stay That Way [1968]
Monk, Thelonious – Jackie-ing: Live in Amsterdam, May 1961 – Jazz at the Concertgebouw
Mulligan, Gerry – Western Reunion: The Sextet Live in Amsterdam 1956 – Jazz at the Concertgebouw
Vaughan, Sarah – If This Isn’t Love: Live in Amsterdam 1958 – Jazz at the Concertgebouw
Webster, Ben / Noordijk, Piet – Johnny Come Lately: Ben Webster Meets Piet Noordijk, Live in Groningen 1973

Highlights für mich sind wohl Chet Baker (ein weiteres Konzert des Quartetts mit Dick Twardzik, der bei dieser Tour wenige Tage später seinen Abgang via OD machte, es gibt ein Bootleg aus Köln, das ebenfalls sehr zu empfehlen ist, und offizielle Studio-Aufnahmen aus Paris), Ben Webster/Piet Nordijk (eher überraschend/unterwartet, aber die ist echt gut – ganz später Webster und ein niederländischer Querkopf am Altsax an seiner Seite), dann Dexter Gordon, Don Byas, Thelonious Monk (ein weiteres Konzert des Quartetts mit Frankie Dunlop, da gibt es halt schon einiges) … aber eigentlich sind die alle gut.

Cannonball Adderley ist wohl die schwächste aus der Reihe, Boy’s Big Band gehört nicht wirklich rein (da ist eine Unterreihe enstanden, zu der auch die Byas/Jacobs und noch ein paar gehören, wo halt auch Niederländer mitmachen und die nicht zur undeklarierten Unterreihe „Live at the Concertgebouw“ gehören). Die Boy’s CD ist aber ganz hübsch, wenn man sich für die Szene in der Zeit interessiert, die bekannteren Sidemen/Solisten sind die Saxer Piet Noordijk, Herman Schoonderwalt und Theo Loevendie, zudem u.a. Cees Slinger, John Engels, Jacques Schols, auch dabei u.a. Ado Broodboom, Erik van Lier (später in der Clarke/Boland Big Band) sowie vier Gäste: Benny Bailey, Ted Curson, Chris Hinze, Nelly Frijda.

Count Basie, Ella Fitzgerald und Sarah Vaughan sind für Leute, die sowas halt mögen … also alles eher keine Essentials, Vaughan wohl am ehesten. Bei Basie und Ella gibt es so viel, auch Live-Material in ähnlichen Besetzungen, dass das nicht so klar ist (die Fondamenta/Devialet von Sassy ist übrigens superb, „Live at Laren Jazz Festival 1975: The Lost Recordings“, wie es scheint bereits vergriffen – das ist eine andere Archiv-Reihe, teils auch mit Aufnahmen aus dem Concertgebouw).

Bei Art Blakey liegt der Fall ähnlich, auch da gibt es haufenweise bekannteres Zeug aus derselben Zeit (und auch hier finde ich die etwas seltsam editierte Fondamenta/Devialet mit einem 1958er Konzert aus Scheveningen, unter 80 Minuten auf zwei CDs verteilt … aber dort die Band mit Morgan/Golson/Timmons/Merritt, die eine meiner liebsten ist) … und bei Adderley auch, aber letztere finde ich einfach effektiv nicht so gut – interessant ist da aber, dass die zweite Hälfte ihn mit den Jacobs-Brüdern, Wim Overgaauw und Cees See dokumentiert, also nicht mit seiner eigenen Band, was sie wiederum zum ziemlichen Unikat macht.

Die Don Byas/Jacobs Brothers finde ich wunderbar – was auch dran liegt, dass ich möglichst jeden Ton von Byas haben möchte, denn so viel gibt es leider am Ende nicht, ein grosser Könner irgendwo zwischen Coleman Hawkins und dem Bebop, der mit fast allen Situationen gekonnt umgehen konnte und auch hier sein immenses Können zeigt. (Ähnlich gelagert gibt es bei ihm z.B. eine Storyville-CD mit Sir Charles Thompson am Klavier oder eine Scheibe aus dem Ronnie Scott’s mit Stan Tracey, „Autumn Leaves“, und auch verschiedene Mitschnitte aus Skandinavien.)

Die Miles Davis-Doppel-CD ist eine feine Ergänzung zu den anderen erhältlichen Konzerten der Tourneen vom März und Oktober 1960 (die letzte mit Coltrane, der auch kürzlich eine Veröffentlichung der MD Bootleg Series gewidmet war, die im Herbst dann mit Einspringer Sonny Stitt). Das Konzert mit Coltrane aus Amsterdam ist total entspannt, gerade im Vergleich mit der geladenen Stimmung, die in Paris herrschte, es hat aber auch nicht den Biss, den Fokus von Stockholm und anderen Auftritten – das macht die CD zum interessanten Dokument, den Mitschnitt aber wohl zu einem der weniger essentiellen von der Tour. Die Tour mit Stitt gefällt mir enorm, einerseits weil ich ihn sehr gerne mag und er bei weitem nicht nur langweiliges Zeug abspult, wie ihm von Coltrane/Davis-Verehrern manchmal vorgeworfen wird – und wie er es auch öfter tat, aber ich finde ihn auf dieser Tour alles in allem ziemlich toll … andererseits verschiebt sich in der Band ohne den Starsolisten das Gefüge, Davis muss selbst viel mehr ran, er tut das gekonnt, und die Hauptachse geht nicht mehr zu Coltrane sondern zu Wynton Kelly, der auch zu den unterschätzten Grössen der Ära zählt … aber eben: zuerst die 4-CD-Sets mit Paris und Stockholm, die Bootleg Series, auf der nur die Coltrane-Konzerte drauf sind, das aus Kopenhagen als einziges neues, die anderen wohl in etwas besserem Klang … und danach vielleicht – je nach Bedarf halt – der Rest).

Die Dexter Gordon, ich erwähnte es drüben, ist einer der raren Fälle, wo von vor 1966 oder so (ab dann gibt es wegen der Exilanten in Skandinavien und dank Black Lion plötzlich mehr davon) doch nochmal ein Live-Dokument eines Jazzers der klassischen Epoche auftaucht … umso schöner, dass der Mitschnitt dann auch noch richtig gut ist! Die Niederländer (Rob Madna-p, Ruud Jacobs-b, Cees See-d – Ruud Jacobs starb diesen Juli, hatten wir das mitgekriegt @soulpope @redbeansandrice?) sind damals schon lockerer drauf als wohl jede andere vorstellbare europäische Rhythmusgruppe (gut, die „Three Bosses“, aber weder Bud Powell noch Kenny Clarke waren Europäer, bleibt nur Michelot … was zu HUM führt, Daniel Humair, René Urtreger und Michelot – vielleicht die einzig vorstellbare, ähnlich gut funktionierende Alternative 1963? Bloss war Urtreger damals wohl im Drogentraumakoma? Von den frühen Sechzigern bis nach Mitte der Siebziger war er ja weg, ich müsste endlich seine Biographie lesen …) … also, wo war ich? Genau: die Rhythmusgruppe ist für europäische damalige Verhältnisse super entspannt und lässig und damit für den unfassbar lässigen Gordon auch sehr passend – sie kann mit ihm umgehen, er hat seinen Spass, alles funktioniert. Keine Selbstverständlichkeit in jenen Tagen! (Es gibt von 1964 oder so dann Mitschnitte mit George Gruntz und dem 18jährigen NHOP, wo das dann auch super klappt, vermutlich wieder Humair? Oder Clarke, da bin ich grad überfragt.)

Die Jazz at the Philharmonic ist wohl auch nicht gerade essentiell, aber dennoch sehr gut. Man kriegt zwei Bands zu hören: Roy Eldridge, Benny Carter, Coleman Hawkins, Don Byas, Lalo Schirfrin, Art Davis, Jo Jones bzw. Dizzy Gillespie, J.J. Johnson, Leo Wright, Stan Getz, Schifrin, Davis, Chuck Lampkin – letzteres keine JATP-All-Star-Combo sondern Gillespies damalige Band plus Stan Getz – und da kommt schon ordentlich Feuer in die Bude.

Jazz from Carnegie Hall war eine Tour, bei der Lee Konitz, Zoot Sims, Phineas Newborn, Red Garland, Oscar Pettiford, Kenny Clarke, sowie J.J. Johnson und Kai Winding mitwirkten, zu hören in unterschiedlichen Konstellationen … und ohne die beiden Posaunen auch auf der Frémeaux-CD „1er Oct 1958 – Live in Paris“ (läuft unter Kenny Clarkes Name – diese „Live in Paris“-Reihe von Frémeaux ist auch highly recommended, aber das würde noch so ein Monsterpost, schaffe ich heute nicht auch noch). Da gibt es wunderbare Momente, aber es ist halt auch so ein All-Star-Ding, das am Ende eher eine Nummernrevue als ein passendes Ganzes ergibt.

Die J.J. Johnson ist bei mir höchst willkommen, denn sie dokumentiert seine 1957er-Band. In dieser spielte der belgische Tenorsaxophonist/Flötist Bobby Jaspar, eine der grossen Stimmen des damaligen europäischen Jazz, der gerade durch die Arbeit mit Johnsons Quintett gehärtet wurde und ein paar grosse Schritte machte. Die Rhythmusgruppe der Band kann sich auch sehen lassen: Tommy Flanagan-p, Wilbur Litte-b und der ganz junge Elvin Jones, der seinen Stil erst noch finden muss, aber dennoch schon interessant ist. Neben den Studio-Aufnahmen für Columbia (die schon 1956 einsetzen) gibt es bei Fresh Sound noch ein Bootleg mit Aufnahmen der Gruppe aus dem Cafe Bohemia in New York … alles hörenswert, finde ich!

Die Misha Mengelberg/Piet Nordijk habe ich gerade nicht mehr präsent, lief wohl erst einmal oder so … Rob Langereis spielt den Bass, Han Bennink sitzt am Schlagzeug, als Gast taucht Ted Curson auf – muss also fast gut sein (und als schlecht hab ich sie auch nicht in Erinnerung, bloss hat sich da noch nichts wirklich festgehakt).

Die Hank Mobley fehlt oben bei den Faves – und gehört da wohl trotz allem doch hin … denn Mobley war 1968 am Ende seiner guten Jahre angekommen und die Diskographie dünnt arg aus (es folgten noch zwei letzte Alben für Blue Note 1969/70, wobei das zweite glaub ich erst in der LT-Reihe 1980/81 erschien; 1972 dann die letzte Aufnahme mit Cedar Walton, „The Breakthrough“), Live-Aufnahmen von Mobley sind auch nicht gerade überall erhältlich (es kursiert fast nichts, die frühe Aufnahme aus Newark 1953 auf Uptown war auch schon eine kleine Sensation). Die CD aus Holland stellt Mobley mit drei Bands vor, zuerst Pim Jacobs, Wim Overgaauw, Ruud Jacobs, Han Bennink; dann eine grosse Band von etwas zweifelhafter Qualität (Nordijk, Schoonderwalt, Ferdinand Povel und Langereis sind die bekanntesten Namen, das Line-Up ist aber nicht gesichert); und zuletzt nochmal mit einer Rhythmusgruppe: Rob Agerbeek, Hans van Rossem, Cees See. Das ist alles nicht ganz so wunderbar wie erhofft, fügt sich eher ins allgemeine Bild von Mobley ein, das man halt so hat (verhärteter Ton, allmählicher Niedergang, keine Überraschungen mehr, der wunderbare Lyrismus von früher nur noch als Schatten vorhanden …) – aber gut, würde ich dennoch nicht hergeben (und ich bin auf die kommende Mobley-Box von Mosaic sehr gespannt – vielleicht rückt die ja seine Spätphase nochmal etwas zurecht, auch wenn da nichts drin ist, was man noch nicht kennt).

Die Thelonious Monk erwähnte ich rasch – wie gesagt, die Band mit Rouse, Ore und Dunlop – meine wohl liebste Besetzung des Quartetts mit Rouse, das über fast eineinhalb Jahrzehnte bestand … was viel mit Dunlop und seinem irren Spiel zu tun hat, das mich immer wieder kickt.

Die Gerry Mulligan hab ich gerade ebenfalls nicht mehr präsent, aber auch die kann nicht schlecht sein, präsentiert sie doch sein 1956er Sextett mit Joe Eardley an der Trompete, Bob Brookmeyer an der Ventilposaune und Zoot Sims am Tenorsaxophon – eine der besten Bands, die Mulligan je hatte (Bill Crow/Dave Bailey sind die ebenfalls sehr gute Rhythmusgruppe, Klavier gibt es höchstens, wenn Mulligan oder Brookmeyer mal an die Tasten sitzen).

Dann noch die Ben Webster/Piet Nordijk – 1973 war Webster eigentlich ja durch, es gibt auch sein letztes Konzert, aus demselben Jahr, auf CD, eine ziemlich traurige Sache in schlechtem Sound („The Holland Sessions“, 2CD von Blue Note, wegen CD 1 mit zwei Alben von 1969 überaus hörenswert, CD2 enthält das letzte Konzert) … aber hier, mit einer zu zwei Dritteln amerikanischen Rhythmusgruppe (Irv Rochlin, Rob Langereis, Tony Inzalaco) und dem nutcase und musikalischen Chamäleon Nordijk an seiner Seite, blüht Webster nochmal richtig auf. Allen, die späten Webster (wohl so ab 1960) mögen, sei die Scheibe allerwärmstens empfohlen!

PS: Dexter Gordon 1964 (mit Gruntz, Humair – beides Schweizer übrigens ;-) – und am Bass Guy Pedersen, nicht NHOP, der war damals noch in Dänemark, durfte ja auch nicht mit, als Count Basie ihn engagieren wollte):






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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba