Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!

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wahr

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gypsy-tail-wind
Mein Urteil zu jaimie branch hat übrigens nichts mit Fieber zu tun …

Das wollte ich damit auch bestimmt nicht sagen.

gypsy-tail-wind
…aber nochmal: die grossen Bögen, die gibt es auch hier wieder – aber die gibt es vom Konzept, vom Material her … und das ist auch alles phantastisch gemacht und vermutlich zu weiten Teilen branch anzurechnen (sie schreibt, wie das Material live ausprobiert wurde und allmählich Form annahm, aber ob da dieselben Leute schon an Bord waren, weiss ich nicht) … aber von der Trompete her höre ich halt einfach keine Bögen.

Ich höre ihr Trompetenspiel sogar als essentiellen Mittelpunkt des Ganzen. Daher kann ich auch diesen Kommentar nicht teilen:

gypsy-tail-windIch finde das Vorgänger-Album was Branchs Trompetenspiel anbelangt auch nicht berauschender (und live fand ich sie leider auch nicht besser). Ist wirklich einer diese Fälle, wo ich gerne mehr mögen würde, aber es geht einfach nicht

Wenn auf Album I die Drums von Chad Taylor Jaimie Branchs stakkatoartigen Töne und Slogans auf der Trompete aufnehmen, merkt man, dass Branchs Trompete wie ein Beschleuniger wirkt. Oder wenn sie, wie zu Anfang der zweiten Seite auf Album I im ruhigen Part sich undeutlich aus einem undefinierbaren Erinnerungsnebel schält, noch nicht wissend, in welcher Gestalt sie schließlich heraustreten wird, diese Stimmung gehalten und erstmal nicht aufgelöst wird, kann ich das nicht anders als meisterhaft finden. Dann wird es langsam körperlich mit einem Bass, der auf mich zugeht, tastend, aber bestimmt. Das kurze Solo von Branch, das dieses Auf-Mich-Zukommen begleitet, ist wunderschön, nimmt immer mehr Farben auf, als würde sich der Nebel in seine Spektralfarben auflösen, ganz unaufgeregt auflösen, währendessen hat sich das Cello unmerklich dem Bass angeschlossen, sie gehen gemeinsam auf mich zu. Taylor schlägt und klingelt im Hintergund ein leises Panorama dazu, nichts wird hier laut, alles bleibt ruhig und doch ist das meilenweit von Tapetenmusik entfernt. Plötzlich ist Branch wieder ganz alleine mit der Trompete, und dann in den Pausen, zwischen ihren Trompetenlauten, sind es wir selbst, die alleine sind. Wir können es beim ersten Hören noch nicht wissen, aber sie bereitet mit jedem kleinen Trompetenausstoß das Motiv vor, das dann alle wieder aufnehmen werden. Ein treibendes Motiv, wir sind wieder voll drin in Fly Or Die. Allein diese Stelle – ich könnte die ganze Platte so durchdeklinieren – ist der Kauf wert.

Für mich von der ersten bis zur letzten Sekunde herausragende Musik, eine überzeugende und auch bewegende Mischung aus Improvisation und Verarbeitung, Standpunkt und Perspektive. Ich kann deine Meinung, das wir es hier mit einer mittelmäßigen Trompetenspielerin zu tun haben, einfach nicht nachvollziehen. Ich sehe aber von jeher Musik auch nicht vom Standpunkt technischen Könnens her. Aber du doch eigentlich auch nicht, oder? Oder vielleicht doch. Ich habe ja mit Blue Note-Aufnahmen aus der Welt der perfekt platzierten Hochleistungsmikrophone an professionell verschallten Studiowänden in ultrageschmackvollen Covern auch manchmal so meine Schwierigleiten, weil sie mir schon fast zu perfekt aufgenommen sind. Ich wünsche mir unperfekte Musik, denn wenn Musik perfekt ist, wo bleibe ich denn da? Ich bin da aber selbst hin- und hergerissen.

gypsy-tail-wind… Mag sein, dass das etwas ist, wo man mit unterschiedlichem Hintergrund anders rangeht: Keine Soli als Pluspunkt – das wirst Du von einem Jazzfan natürlich nicht hören, denn es geht ja gerade um den individuellen Ausdruck, und klar, der kann die einzelne Stimme transzendieren und ich würde sogar behaupten, dass er das auf beiden „Fly or Die“-Alben tut, umso frustrierender finde ich die mittelmässige Trompeterin, die da mitspielt – mit der Bandleaderin/Komponistin/Konzeptkünstlerin kann ich das einfach nicht zusammenbringen.

„Keine Soli als Pluspunkt“ wirst du von mir nicht hören. Ich bin nicht @friedrich ;).
Aber von mir wirst du eben auch nicht hören: „Soli als Pluspunkt“. Ich höre den individuellen Ausdruck nicht nur in Soli, so nehme ich Musik einfach nicht wahr. Ich höre den individuellen Ausdruck im Spiel als Ganzes. Keith Richards ist ein außergewöhnlicher Gitarrist nicht nur wegen seiner Soli, sondern in seiner ganzen Spielweise, in seiner Beziehung zu seinen Mitspielern, in dem was er spielt und in dem was er weglässt. Das ergibt für mich in der Summe seinen ganz individuellen Ausdruck. Er hat auch tolle Soli gespielt, die ungefähr so lang oder kurz sind, wie die Soli, die ich auch bei Jamie Branch höre. Ich würde mir einbilden, ihr Trompetenspiel nach dem, was ich bisher von ihr kenne, aus jedem Track herauszuhören. Und deswegen kann ich auch die Trompetenspielerin Branch ohne Probleme mit der Bandleaderin/Komponistin/Konzeptkünstlerin Branch zusammenbringen. Auch mit der Punkmusikerin und der Elektronikmusikerin.

soulpope

wahrDilettantisch„? „Das „Eigentliche“ fehlt“? Jazzkenneralarm! Ich stehe manchmal vor Rätseln, wenn ich obiges lesen muss. Und merke, ich krieche doch aus einer ganz anderen Ecke kommend auf Jazz zu.

Ja manche „Jazzkenner“ haben diesen Ansatz in den 70ern als Neuerung erlebt und hören manche Ansätze des diskutierten Produktes bestenfalls retro …. aber jedem seine persönliche (auch geburtszeitpunkt bedingte) Jazzevolution …. und sonst steht jeder wiederholt vor Rätseln, also kein Einzelschicksal ….

Keine Ahnung, welche Ansätze „des diskutierten Produkts“ von Jaimie Branch retro sind und welchen Ansatz du davon in den 70ern schon als Neuerung erlebt hast. Dass sich Branch auf Free Jazz bezieht, ihn aber eher als Tool einsetzt? Und diese Art als politisch adäquat in heutiger Zeit betrachtet? Sie füllt diesen (von ihr übrigens abgelehnten) Begriff doch mit aktuellen Inhalten, lässt ihre kolumbianische Herkunft mit einfließen (auf Album II mit den spanischen Einflüssen), findet eine Mischung aus auskomponierten Parts, Edition und freieren Bereichen, und klingt auch sonst einfach heutig, mit ihren diversen Projekten (Punk, Elektronik, Jazz) die eigene Sprache immer wieder aufwirblend und neu zusammensetzend. Um Innovationspunkte hat sie nie gebeten, soweit ich das mitbekommen habe. Sorry, aber ich reagiere immer etwas allergisch auf die „KennIchAllesSchonDagewesen“-Masche. Das klingt so, so … einfach?
Ihre Fähigkeiten an der Trompete als dilettantisch zu bezeichen, grenzt an Arroganz. Sie als mittelmäßig zu bezeichnen (so wie gypsy), nun ja, das geht dann eben als eine Meinung durch.

(Vielleicht sollte man die Konversation in einen eigenen Jaimie Branch-Thread verschieben, oder?)