Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Zurich Film Festival (1/2)

Freitag ging ich mal wieder ans Filmfestival, das sich inzwischen im städtischen Kulturkalender etabliert hat. Ob es ein Konzept gibt oder sowas ähnliches, weiss ich nach wie vor nicht – ich muss mich jeweils durch das vollständige Programm wühlen und mühsam eine Liste mit Filmen und Terminen kritzeln, um die Dinge zu finden, die mich interessieren und die zeitlich auch irgendwie reinpassen (so wird man quasi zu seinem eigenen Kurator, denn daran krankt das Festival schon ein wenig, mit seinen zahlreichen Wettbewerben und sonstigen Reihen). Dieses Jahr machte ich mir die Mühe wieder einmal, nachdem ich zwei Jahre ausgelassen hatte (wegen Urlaub und anderen Terminen). Drei Filme gab es letzten Freitag, drei weitere morgen und Mittwoch.

G Affairs (Cheuk Pan Lee, HK 2018) | Los ging es mit diesem irren Film, der im Programm unter Genre als „Mystery“ geführt wird, aber gerade so gut, Thriller, RoCo (fast ohne „Ro“ allerdings), und Satire ist. G ist der Lieblingsbuchstabe eines Jungen, der Cello übt (die erste Suite von Bach in G-Dur natürlich), als der abgetrennte Kopf einer Frau dahergeflogen kommt. Neben dem Schüler, der Cello spielt, gibt es seinen autistischen Klassenkameraden und eine talentierte Schülerin, die von allen gemobbt wird, ihren korrupten Cop-Vater, der nach dem Tod der Mutter eine Prostituierte vom Festland zur Frau nahm (er nistet sich beim Cellospieler ein und hat täglich vor dessen Augen Sex mit verschiedenen Prostituierten, zudem einen bigotten christlichen Lehrer, der die Schülerin missbraucht und sie und ihre Stiefmutter (deren Kunde er ist) zum Gottesdienst mitnimmt, nebenher wird natürlich im Fall des abgetrennten Kopfes ermittelt, der Autist wird Waterboarding unterzogen, der Cellist sitzt auf dem Spitalbett, weil er vor Schreck hintüber kippte und sich dabei am Kopf verletzte … klingt wirr? Ist es auch, denn das alles wird nicht etwa linear erzählt sondern in einem wüsten aber mitreissenden Bilderreigen, gruppiert in diverse Kapitel mit Zwischentitel, die alle mit dem Buchstaben G anfangen. Ach so: einen Hund namens „Gustav“ gibt es auch noch, ein Bild von Klimt, ein Portrait von Mahler, die Schülerin hat natürlich nicht „G-Cup“ usw. Irrer Film!
* * * *1/2

Una Primavera (Valentina Primavera, AT/DE/IT 2018) | Der Film war eigentlich nur der passende Lückenfüller (das ZFF findet über die halbe Stadt verteilt statt und das Herumfahren dazwischen muss natürlich ebenfalls eingeplant werden, Alternative wäre der Dokfilm „Shooting the Mafia“ über die Fotografin Letizia Battaglia gewesen, der aber im falschen Kino lief – und eher mal regulär zu sehen sein dürfte) – aber entpuppte sich als äusserst sehenswert. Dass die Regisseurin und ihr Kameramann (und Partner?) anwesend waren und sich nachher eine recht gute Diskussion entwickelte, war auch schön. In „Una Primavera“ dokumentiert die in Berlin lebende Regisseurin den Prozess der Abnabelung ihrer 60jährigen Mutter. Nach Jahrzehnten der Ehe mit einem gewalttätigen Mann (dem Vater der Regisseurin) und viel Arbeit, flieht die Mutter für zwei Monate nach Berlin zur Tochter, kehrt dann aber zurück, um zum Rechten zu sehen im Haus, das sie einst geplant hatte … und um die Scheidung einzureichen. Die Tochter begleitet sie, filmt Begegnungen mit ihren Geschwistern, die im Dorf in Apulien geblieben sind, mit ihrer Grossmutter, ihrer Nichte, auch der Vater kommt – flennend, dann erklärend – vor, tut schliesslich so, als wolle er sich ändern und verstehe die Welt nicht mehr … ein Film, der manchmal brutal voyeuristisch ist, aber in dem doch auch eine gewisse Distanz herrscht. Die in der Ferne lebende, kinderlose Tochter begreife nicht, was „Familie“ heisse, meint der Vater einmal. Der Familie, das wird aus dem Film klar, kann man in dieser Welt nur durch den Tod entkommen. Auch die Mutter lebt am Ende wieder im Haus, getrennt, im oberen Stock, doch natürlich kocht sie bald wieder für alle, will und braucht ihr Leben zurück, Was ohne den Mann eben gar nicht denkbar ist. Krass.
* * * *

Three Husbands (Fruit Chan, HK 2018) | Den Abschluss machte dann ein total irrer zweiter Film aus Hong Kong. Von der Erzählweise her konventionell, von der Story her irgendwas zwischen Groteske, Satire (das die Genre-Bezeichnung im Programm), Horrormärchen, griechischer Tragödie … natürlich ist das, wie schon der erste Film, auch eine politische Parabel, ein Kommentar zu Hong Kong. Eine Zumutung jedenfalls, dieser Film. In Kürze: eine zurückgebliebene, über eine völlig bekloppte, nicht zu befriedigende Libido verfügende junge Mutter, die mit ihrem Vater (Ehemann Nr. 1 aka „big brother“, vermutlich auch Vater ihres Kindes) auf einem Boot im Hafen lebt, wird von diesem und seinem Fischerkumpanen (Ehemann Nr. 2 aka „second brother“, ein notorischer Spieler und wohl ihr offizieller Ehemann, auf dessen Kahn sie lebt) prostituiert. Dann heiratet sie, zieht aufs Festland, gerät so in feste Bahnen und damit die Welt aus den Fugen, also zieht sie samt Ehemann (Nr. 3 aka „little brother“) – aufs Boot zurück und die drei „Ehemänner“ versuchen, genügend Männer zu finden, um sie bei Laune zu halten … vom einstigen Standplatz vertrieben machen sie sich schliesslich auf, die sagenhafte Herkunft der jungen Frau, die von Meerjungfrauen abzustammen scheint, zu erforschen und dabei ihre alles Fressende Libido zufriedenzustellen, was sich zunehmend als unmöglich entpuppt (dabei kommen u.a. Aale, der Stummelarm und weiteres zum Einsatz). Der Film driftet vom halbwegs Realistischen ersten Teil (mit weiteren Handlungselementen) in eine Art Odyssee, in der die junge Frau zur Sirene wird – er verliert darob auch seine Farbe und bietet manchmal völlig irre Bilder, wird aber auch ziemlich monoton. Am Ende segeln die beiden Kutter („big brother“ wird von „second brother“ geschleppt) mit der Sirene im knallroten Cape als Galionsfigur … ja, wohin eigentlich? Die Welt jedenfalls wird nicht mehr farbig, der Film ist dann doch noch zu Ende, die drei Vorstellungen übrigens ausverkauft (Première im deutschsprachigen Gebiet glaube ich, die anderen beiden waren wohl auch Europa- bzw. Schweiz-Premiere, doch auf solche Details weist das unübersichtliche Programm nicht einmal hin).
Ein Rating kriege ich da nicht hin, zu rätselhaft bleibt mir der Film … nichts für empfindliche Gemüter, aber für alle anderen schon sehenswert.

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