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Gestern im Kino:
Les petites fugues (Yves Yersin, CH 1979) – ein grosser Schweizer Klassiker, den ich tatsächlich zum allerersten Mal gesehen habe … den wuderbaren Michel Robin, der damals noch nicht mal 50 war und die wenigstens 20 Jahre ältere Hauptrolle spielt, kannte ich schon aus Claude Gorettas Meisterwerk „L’Invitation“, aber auch von Nebenrollen, etwa in Alain Resnais‘ bezauberndem „Vous n’avez encore rien vu“ (2012).
Bei Yersin spielt Robin den alten Knecht auf dem Hof der Familie Duperrex, der Pöstler bringt ihm regelmässig seine Altersrente vorbei (damals noch ein Umschlag mit Geld drin). Der Patron ist ein verhärmter Sturkopf, der Sohn will den Hof in die neue Zeit führen, die Mutter ist weich und gütig und erleidet dann einen Zusammenbruch, die Tochter fühlt sich eingesperrt und hat bereits ein kleines Kind, das eher von der Grossmutter betreut wird, neben dem alten Knecht gibt es noch den Italiener Luigi, ein Saisonnier (auch so ein Skandal, der noch bis in die frühen Nullerjahre lief), mit dem die Tochter dann auch was hat, war ja klar … Pipe, der alte Knecht also, geht irgendwann plötzlich weg – zum Bahnhof, um sein Moped abzuholen. Dieses stösst er den ganzen Weg zum Hof zurück und stellt es in seine Kammer. Luigi bringt ihm dann das Fahren bei, was natürlich nicht ohne Streit und Slapstick geht … und so beginnt Pipe, die Welt jenseits des Hofes zu erforschen. Er macht Ausfahrten inss Dorf, auf einen Hügel, er besucht die Tochter der Familie bei ihrer Arbeit in der Schokoladefabrik und fehlt immer wieder bei der Arbeit. Und bei einer Fahrt durch den Wald hebt die Kamera – die auf dem Moped montiert wurde bzw. dies suggeriert – ab und beginnt, zu fliegen, erhebt sich über die Wipfel der Bäume und schwebt plötzlich in der Höhe, mit Blick auf die Felder und Dörfer und bis zum Genfersee.
Schliesslich führt ihn das bis zu einem Motocross-Rennen, wo er zudem bei einer Verlosung das korrekte Gewicht eines Motorrades samt Hostesse schätzt und so eine Polaroid-Kamera gewinnt. Er betrinkt sich, pöbelt Leute an, spielt am Tisch denselben Streich, den er vorher zwei kleinen Jungs abgeschaut hat (kleine Senftube, Deckel ab, Faust drauf …) – schliesslich fliegt er raus, die Polizei bringt ihn und sein Moped zurück auf den Hof. Moped fahren ist damit vorbei – im Dorf kennt ihn längst jeder, natürlich auch der Dorfpolizist (selbst mit dem Moped unterwegs).
Pipe befreit sein Moped aus dem Werkzeugschuppen und zündet es auf einer Wiese an, mit dem grossen Hammer, der zum Einschlagen von Zaunpfosten benutzt wird, zertrümmert er das brennende Wrack. Fortan erkundet er die Welt – die nun Grossteils wieder auf den Hof geschrumpft ist – mit seiner Sofortbildkamera. Er knipst sich selbst in seiner Kammer, im Hintergrund ein Foto des geliebten Matterhorns, er fotografiert die Familie, Luigi, sich selbst, bei der Arbeit, beim Haareschneiden, den Patron auf dem Traktor, die Tochter wie sie ihm, Pipe, die Haare schneidet, die Kühe, die Hühner, den Misthaufen, auf dem er täglich beschäftigt ist. Schliesslich gönnt er sich einen Helikopterflug rund um das Matterhorn – er sieht all das Eis und all den Stein, meint die Kuppe sei erstaunlich glatt: da seien morgens halt ganz viele, die dort hochsteigen und dann ihr Picknick veranstalten. Als der Pilot meint, ob er nun noch den Gletscher sehen wolle, es blieben noch zehn Minuten und die müsse man doch nutzen, will Pipe wieder nach unten.
Ein leiser Film, der oft Schmunzeln macht, ein Film der nebenbei und ganz leise die Enge der Schweiz in jener Zeit zeigt, eine beklemmende Enge, der nur Pipe und die Tochter gerne entrinnen würden oder eher: nur sie erkennen, dass überhaupt ein anderes Leben möglich wäre. Sehr still ist auch die Ironie, die sich durch den ganzen Film zieht, der letzten Endes aus dieser stillen Ironie eine umwerfende subversive Kraft entfaltet – und das ohne je offen anzuklagen oder den Zeigefinger zu erheben; alles nicht nötig, es reicht die Beobachtung, die aber auch nie zur Entlarvung wird. Ein sehr feiner Film also, und ja, ein Meisterwerk!
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