Antwort auf: 2019: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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Jazzfestival Middelheim – Sonntag, 18.8. (Tag 4)

Den letzten Tag gingen wir dann wieder mit mehr Elan an. In der Stadt hatten wir davor überraschenderweise noch einen weiteren geöffneten Plattenladen angetroffen (wir hatten schon am Vortag ein paar Dinge eingekauft). Die Pause tat bei dem dichten Programm jedenfalls gut, und das Programm vom Samstag war wie erwähnt eh nicht für uns gemacht. Das wirft auch nochmal die Frage auf, die wir uns einige Male gestellt haben: Was hat man sich beim Festival im Hinblick aufs Programm wohl überhaupt so überlegt? Waren z.B. die jeweiligen Abende als ganze konzipiert? Das hat für mein Empfinden nur beim Eröffnungsabend gepasst, danach konnte ich keine echte Dramaturgie mehr erkennen.

Das erste Konzert am Sonntag haben wir auch wieder ausgelassen, auch weil es mit dem Schlusskonzert von Akinmusire – zwar auf der kleinen Bühne – auch so wieder vier längere Sets gab und das schon mehr als genug ist, wenn es keine richtigen Pausen gibt. Zudem hatten wir schon am ersten Tag erkannt, dass es besser war, satt aufs Gelände zu gehen, da die Dinge, die man dort zwischen die Zähne kriegt eher klein und recht teuer waren und man sich auch recht lange anstellen musste, was ja eben (dasselbe bei Getränken, die natürlich unverzichtbar waren – auch den Besuch der Konzerte auf der kleinen Bühne verhinderte … eigene Lebensmittel durfte man nicht aufs Gelände bringen, nicht mal eine Wasserflasche, was ich recht ätzend fand. Wir gingen also vorher noch was essen und liessen das erste Set mit Bojan Z. aus, den wir mit diesem Hintergedanken am Freitag auf der kleinen Bühne wenigstens kurz angehört haben.

16:00 – EVERGREEN 5+ feat. AMBROSE AKINMUSIRE
Ambrose Akinmusire (t), Lennert Baerts (ts), Jarno Verheyen (p), Roeland Celis (g), Soet Kempeneer (b), Klaas De Somer (d)
* * *1/2

Dort waren wir aber für das zweite Konzert auf der Hauptbühne, das Ambrose Akinmusire zusammen mit einer Band von Studenten des Konservatoriums von Antwerpen – die aber soweit ich das mitgekriegt habe auch tatsächlich als Band unterwegs sind. Gespielt wurden Stücke von mehreren Bandmitgliedern, aber auch wenigstens eines von Akinmusire. Dieser setzte sich überhaupt nicht in Szene, spielte seine Soli, fügte sich in den Klang der Band ein. Das Set, die Band war besser als erhofft, etwas verhalten-melancholisch meist, aber doch mehr als Kompetent. Beim Gitarristen wurde mir nicht klar, und ich befürchte es ist ihm halt (noch) nicht klar: Will er klassische Jazzgitarre spielen oder eher sowas wie Terje Rypdal machen? Und bei dem Namen ist auch die offensichtliche Referenz da, der Sound vieler europäischer Bands und Musiker, wie ihn ECM populär gemacht (und teils sicher auch mitgeprägt) hat. Ich dachte denn auch ein paar male an das übermässig brav geratene ECM-Album von Wolfgang Muthspiel mit Akinmusire, von dem ich gerade dachte, ich könne es zum Wiederhören bereitlegen, dabei hatte ich es wohl nur ausgeliehen und dann eben nicht gekauft … nun ja, ein überraschend stimmiger Auftakt war das auf jeden Fall schon.

18:00 – JOE LOVANO TRIO TAPESTRY
Joe Lovano (ts, gongs), Marilyn Crispell (p), Carmen Castaldi (d)
* * *

Lovano zählte durchaus zu den Namen, die mich anlockten, aber ich erwähnte es schon: auf dem Papier verstehe ich die Idee hinter diesem Trio überhaupt nicht, und leider half das Konzert diesbezüglich in die „falsche“ Richtung: ich verstehe das Trio jetzt erst recht nicht mehr bzw. halte es für eine verfehlte Idee (wessen ist mir nicht klar, ich würde aber auf Lovano tippen – ECM und Wynton Marsalis sind ja nicht immer an allem schuld). Lovano stand in seinem bunten Hemd herum, mit dem ulkigen mehrstöckigen Strohhut, der immerhin für etwas Ablenkung sorgte, aber der Versuch, den Hut zu identifizieren scheiterte dann leider doch. Richtig gut – ganz wie zu erwarten – war Marilyn Crispell, auf der Hauptbühne eine der wenigen Frauen (Nubiya Garcia war da ja noch, aber das war ja eher Pop, und sonst gab es nur Streicherinnen – bei Ackamoor und Akinmusire – und Sängerinnen – bei Ackamoor und Werner). Alleine würde Crispell wohl nie auf einer so grossen Bühne auftauchen, was überaus schade ist, aber so sind nunmal die ganzen Marktmechanismen und Publikumsinteressen halt gelagert. Carmen Castaldi, ein alter Buddy Lovanos aus Cleveland, hatte als einziger Drummer sein eigenes Drum-Set mit, das auch wunderbar klang, was aber aus Castaldi jetzt auch nicht den Wunderdrummer machte – will sagen ich fand das alles etwas anstrengend, phasenweise recht zäh, phasenweise aber schon auch ziemlich gut. Aber mein anderes Live-Erlebnis mit Lovano – ein Standards-Set mit einer Schweizer Rhythmusgruppe – war ein ganz anderer Fall und ein Rahmen, in dem er super aufspielen und seine ganze Souveränität demonstrieren konnte. Das ging in diesem für Lovanos Verhältnisse wohl etwas zu experimentell-offenen Rahmen nicht. Und seltsam: auch für Castaldi war der Rahmen zu offen. Auch seltsam: warum hat ihnen nie jemand gesagt, dass ein Bass nicht schaden würde? Crispell ist eine tolle Solistin und beherrscht das ganze Klavier, auch die tiefen Lagen, aber dieses Trio ist nicht ihre sondern Lovanos Show, sie spielte also eher zurückhaltend auf und liess es nicht gerade krachen. Also: einige Irritation, einige seltsame Momente (Lovano und seine Gongs), einige sehr schöne – am besten wohl ein längeres Piano/Drums-Duo. Fazit: mittelprächtig. Und wie das Werner-Set auch etwas ärgerlich, irgendwie.

20:00 – TRIBUTE TO TOOTS THIELEMANS BY GREGOIRE MARET & KENNY WERNER + GUESTS
Grégoire Maret (harm), Kenny Werner (p, synth), add: Nicholas Thys (b), Dré Pallemaerts (d), Philip Catherine (g)
* * *

Setlist:
1. Days of Wine and Roses (duo)
2. Autumn Leaves (duo)
3. ? (Luis Eça) (quartet)
4. Dance for Victor (Catherine) (quintet)
5. The Shadow of Your Smile (quintet)
6. Waltz for Sonny (für Rollins, comp. Thielemans) (quintet)
6. All the Way (duo)
7. Wave (duo)
8. Ne me quitte pas (duo)
9. What a Wonderful World (duo)
Zugabe: 10. Bluesette (quintet)

Die Setlist reicht schon fast aus als Beschreibung dieses letzten Konzerts in der grossen Halle (das Bild ganz oben entstand während der Zugabe, als wir schon draussen waren, das folgende Akinmusire-Set war wichtiger!). Grégoire Maret ist vermutlich besser, als es Toots je war, Kenny Werner, der einst mit Thielemans gespielt hat, entlockte schamlos dem Synthesizer, der auf dem Flügel lag, käsigste Streicherklänge (dem Guten hat wohl noch niemand mitgeteilt, dass die Achtziger schon länger vorbei sind), alles furchtbar nett, aber dennoch nicht schlecht. Schlechter wurde es aber, als nach einem Stück im Quartett (mit einem Bilderbuch-Belgier am Schlagzeug) der zweite Bilderbuch-Belgier auf die Bühne schlurfte, Philip Catherine … das Publikum war begeistert, doch das Zusammenspiel klappte nicht so richtig – auch hier hätte es wohl einer gemeinsamen Probe bedurft, aber stattdessen hat man wohl den Fritten und dem Bier gefrönt (womit ich an sich kein Problem habe, aber ich gehe ja auch nicht auf die Bühne). Also, „Autumn Leaves“, Sinatra, Jobim, Brel, Bossa, Sixties-Pop und mehr, und zum Schluss „What a Wonderful World“, und dann die obligate Zugabe „Bluesette“ … dass bei diesem Konzert endlich der VIP-Bereich mal nicht mehr völlig leer war, war wenig überraschend, dass das Publikum sich trotz der mittelprächtigen Musik noch begeisterter als sonst zeigte, fand ich dann aber bei aller liebe zu Belgien schon ein wenig verwunderlich.

21:30 – AMBROSE AKINMUSIRE QUARTET (Kleine Bühne)
Ambrose Akinmusire (t), Sam Harris (p, elp), Joe Sanders (b), Kendrick Scott (d, elec)
* * * *1/2

Dann ging es mit einem letzten Bier rüber zur kleinen Bühne, wo Ambrose Akinmusire zum Abschluss den Tag rettete und das erhoffte, super Set ablieferte. Am Klavier sass wieder Sam Harris, der auch zur Stammbesetzung des Quartetts gehört (Harish Raghavan am Bass, Justin Brown am Schlagzeug) und der für Akinmusire ein perfekter Partner ist. Die Rhythusgruppe (b/d) war dieselbe wie beim „Mae Mae“-Konzert am Samstag, also inzwischen alles vertraute Gesichter (auf dem 2010er Studio-Album „When the Heart Emerges Glistening“ ist übrigens Gerald Clayton mit Raghavan/Brown zu hören, auch die Kombination gab es also schon). Auch das Quartett war sofort da und spielte ein phantastisches, etwa einstündiges Set (beim „Mae Mae“-Set hatte Akinmusires Set übrigens sicher zehn Minuten Überlänge, d.h. statt der am Samstag vorgesehenen Stunde spielte er auch fast wieder die sonst üblichen fünf Viertelstunden). Das grossartige, energiegeladene Set des Quartetts, in dem Akinmusire nochmal glänzen konnte mit seinem Spiel voller rhythmischer Twists und oft unklar intonierten Tönen, sorgte also für einen überaus versöhnlichen Ausklang des Festivals, das unterm Strich mit zwei wirklich guten Tagen aufwarten konnte. Der Sonntag – vielleicht war ja auch das irgendwie Konzept? – war auf der Hauptbühne jedenfalls zu brav und zu nett, auch wenn Lovano vermutlich gerade mit diesem Trio eigentlich anderes beabsichtigt hat.

Nicht gehört: haben wir das erste Set des Abends (vielleicht ein Fehler? ich vermute aber eben, dass auch das furchtbar nett war):
14:00 – Ragini Trio feat. Bojan Z & Sawani Mudgal: Nathan Daems (sax), Marco Bardoscia (ba), Lander Gyselinck (d) + Bojan Z (p), Sawani Mudgal (voc)

Auf der kleinen Bühne hatte der Saxophonist Manuel Hermia die drei Pausensets kuratiert (das vierte fiel weg, weil es Akinmusire gehörte):
15:20 – Hermia/Darrifourq/Florent: Manuel Hermia (sax, bansuri), Joachim Florent (b), Sylvain Darrifourcourcq (d)
17:20 – Orchestra Nazionale della Luna: Kari Ikonen (p, moog), Manuel Hermia (sax, fl, bansuri), Sebastien Boisseau (b), Teun Verbruggen (d)
19:20 – Bahdja: Manuel Hermia (sax, cl), Kheireddine Mkachiche (v), Zinou Kendour (p), François Garny (b), Franck Vaillant (d)

Unterm Strich ein sehr lohnender Besuch, wobei ich nicht ganz ausschliessen möchte, dass das Fazit etwas negativer ausgefallen wäre, wenn Antwerpen nicht auch eine tolle Stadt wäre, die vor dem Gang aufs Festivalgelände auch einiges zu bieten hat. Nächstes Jahr sind meine (Ferien-)Pläne eventuell andere (ich liebäugle mit einer Reise nochmal ins Friaul – in Undine und Triest war ich letzten Herbst, ich möchte auch mal nach Gorizia und dann noch einmal nach Triest, das es mir sehr angetan hat – und nach Slowenien und Kroatien, mit einem Besuch am Jazzfestival in Ljubljana, das dann quasi zum Zentrum der kleinen Reise würde. Aber da steht ja noch nicht einmal der Termin fest (Mitte/Ende Juni in der Regel). Mal schauen, ob dann noch genügend Urlaub übrig bleibt für ein weiteres Sommerfestival und ob es eines gibt, das vom Programm her verlockend genug ist (Mulhouse verlor ja diesmal die Ausmarchung gegen Antwerpen – und ich denke das war eine kluge Wahl, denn das Météo wäre wohl nochmal etwas weniger ansprechend geworden als letztes Mal, was den Trend der letzten drei Ausgaben fortgesetzt hätte … mag sein dass ich irre, der Punkt ist aber der, dass es in Mulhouse kaum was zu sehen gibt, wenn man Konzerte überspringt tut man das eher, um mal was richtiges Essen zu gehen oder weil man einfach kein Interesse hat und lieber auf dem Rathausplatz ein Bier trinkt.

Im Gegensatz zu den Schweizer Festivals, um darauf nochmal zurückzukommen und doch den Hauptkritikpunkt zu formulieren, ist man in Mulhouse aber beschäftigt, eine Fahrt dahin lohnt (die Konzerte dauern nach dem Eröffnungsabend am Dienstag von Mittwoch bis Samstag von ca. mittags bis nach Mitternacht). Beim Unerhört, aber letztlich auch bei den meisten anderen Festivals hier, geht man abends wieder heim, dann am Tag zur Arbeit und danach halt ans Konzert, wozu man ja kein Festival braucht … weshalb ich oft eher von Konzertreihe als von Festival reden würde (und es wäre manchmal – das ist wohl beim Enjoy Jazz der Fall, weshalb ich das auch gar nicht erst in meine Urlaubsplanung aufnehme – wohl fast angenehmer, die Konzerte würde über eine ganze Saison oder im Wochenabstand oder so abgehalten, statt jeden Abend).

In Willisau geht das eigentliche Festival am Freitag um 18 Uhr los (Mi/Do gibt es auch nur Abends ein Konzert mit je zwei Bands). Am Freitag gibt es vor dem Hauptkonzert schon ein Set (in der „Intimities“-Reihe, die Solos/Duos präsentiert), und dann noch einen „Late Spot“ um 23:30. Am Samstag und Sonntag finden die „Intimities“ um 11 Uhr statt, dann gibt es um 14 Uhr die ersten Hauptkonzerte (am Sonntag ist damit dann auch Schluss, so um 17 Uhr), am Samstag dann nochmal um 20 Uhr ein Hauptkonzert und um 23:30 ein „Late Spot“. Dazwischen gibt es auch die „Zeltkonzerte“, die aber eher zur Untermalung des Wurstessens der Locals dient, denn das Festival ist in dem Kaff natürlich auch ein Ereignis für die Einwohner (was ja auch super ist so, das sind Jazzfestivals in der Regel ja gerade nicht!). Ab Freitagabend ist man also schon auch beschäftigt, aber dieses Jahr sprach mich das Gebotene zuwenig an, als dass ich eine Übernachtung in Erwägung gezogen hätte – ich gehe dieses Jahr nur morgen Nachmittag ans Schlusskonzert. Vermutlich hätte es sich schon gelohnt, heute ab 11 Uhr dort zu sein (Co Streiff solo, Moor Mother, Anthony Patheras – aber auch wieder zuviele lokale Acts, für die ich an kein Festival gehen muss, wenn ich sie mir schon in Zürich kaum anhören gehe – letzteres sollte ich öfter tun, das ist klar, aber noch häufiger an Konzerte als die letzten paar Jahre kann ich ja fast nicht gehen!).

Morgen geht es also für das letzte Konzert nach Willisau (Gabriela Friedli Trio und James Brandon Lewis/Chad Taylor Duo – erstere kann ich in Zürich hören, ich verstehe die Programmpolitik der Schweizer Festivals ja eben seit längerem nicht mehr, aber das ist eine Diskussion, die wohl niemand interessiert, auch nicht jene, die die Schweizer Festivals machen, befürchte ich), Ende September ist Han Bennink angesagt (im Trio des Zürcher Saxophonisten Omri Ziegele, mit Christian Weber am Bass), im Oktober dann das Quartett von Co Streiff und Russ Johnson (mit Gerry Hemingway am Schlagzeug und erneut Christian Weber), im Januar sind dann die drei Tage Braxton in Wels (AT) vorgesehen … und davor am Unerhört Ende November/Anfang Dezember (beim Unerhört würde ich gerade eher von einer Konzertreihe reden statt von einem Festival) geht es sicher zu den Solo-Konzerten von Kaja Draksler und Wadada Leo Smith, und aller Voraussicht nach wohl auch ans Duo von Alexander Hawkins und Angelika Niescier (letztere vermochte mich 2016 beim Jazzfest Berlin gar nicht zu überzeugen, die Trio-CD auf Intakt vom letzten Jahr fand ich aber okay, und ich kenne einige Leute, die von ihr total begeistert sind …). Tomeka Reid und ein paar andere verpasse ich, weil ich dann mit Heinz Holliger und Neuer Musik beschäftigt sein werde.

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