Antwort auf: 2019: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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Jazzfestival Middelheim – Freitag, 16.8. (Tag 2)

Der zweite Tag war verdammt lang, wir gingen vom Kongo zum Hafen und zurück und ich war schon ziemlich geschafft, als wir am frühen Nachmittag auf dem Festivalgelände ankamen … doch gute Musik wirkt ja so belebend, und so sollte es denn auch werden, obwohl die Erwartungen nach dem unglaublich guten Eröffnungsabend etwas getrübt waren.

15:30 – ERIC LEGNINI ‚TRIBUTE TO LES McCANN
Eric Legnini (p), Thomas Bramerie (b), Antoine Pierre (d), Jonathan Boutellier (ts), Malo Mazurié (t)
* * * *

Los ging der zweite Tag mit einem Set, das brav und langweilig oder funky und langweilig hätte werden können, doch es war solide und verdammt gut. Legnini trägt zwar einen italienischen Nachnahmen und hat auch mit Italienern gespielt, doch er stammt ebenfalss aus Belgien und ist zweifellos einer der besten europäischen Pianisten im breiten Jazz-Mainstream der letzten Jahrzehnte. Die Idee mit der Hommage an Les McCann passt gut zu ihm, er scheint damit auch schon länger unterwegs zu sein. Die Quintett-Formation, die wir hörten, bestach durch ein sehr tightes Zusammenspiel und neben dem Leader fand ich besonders die Beiträge von Boutellier am Tenorsaxophon super, aber auch der Drummer glänzte immer wieder mit guten Einfällen und hielt den Groove, von Bramerie erwartungsgemäss superkompetent geerdet, immer spannend. Der Mix war weder zu nett noch zu belanglos-funky, sondern traf genau den richtigen Mix aus Funk und Hard Bop, und Souljazz. Auf dem Programm stand Musik vor allem von den diversen Pacific Jazz-Alben von Les McCann, die von Blue Note/Capitol/EMI/Michael Cuscuna leider sehr stiefmütterlich behandelt, aber in Spanien bei Freshsound (fast?) vollständig auf CD wiederaufgelegt wurden. Diese Alben präsentieren McCann meist im Trio, was für Legnini und seine Band natürlich von Vorteil war. Gegen Mitte des Konzertes wohl wurde auch „Compared to What“ gespielt, von der Atlantic-Scheibe, die McCann mit Eddie Harris live in Montreux aufgenommen hatte (Inselmusik). Für mich war dieses Set auch deshalb so schön, weil Hard Bop immer noch der Teil des Jazz ist, in dem ich ganz besonders daheim bin, und es heutzutage selten ist, solche Musik auf so hohem Niveau live zu hören … einmal mehr ein feiner Start. Einen besonderen Moment gab es gegen Ende, als das Quintett eine lange Ballade spielte (ein langsamer Walzer vom Album, das McCann mit den Jazz Crusaders einspielte) – und die grosse Halle wirklich intensiv und still lauschte. Dafür bedankte sich Legnini denn auch besonders, bevor die Gruppe das Set beendete.

17:30 – KENNY WERNER QUARTET
Kenny Werner (p), Dave Liebman (ts, ss, whistle), Peter Erskine (d), Johannes Weidenmueller (b), add Vivienne Aerts (voc)
* * *

Beim zweiten Set hatte ich recht hohe Erwartungen, eher wegen David Liebman als wegen dem Leader, der mir bisher nie so richtig aufgefallen ist – was sich auch nach den beiden Auftritten in Antwerpen nicht geändert hat. Hier waren die 75 Minuten wieder zu lang. Legnini hatte sein Set geschickt getaktet, das kriegten die alten Herren hier nicht hin bzw. es war ihnen wohl einfach völlig egal, sie waren ja da, die Leute waren da, was soll man da noch gross überlegen? Hier wurde nun genudelt, gedudelt, geklöppelt, vor allem letzteres von Peter Erskine auf allerhöchstem Niveau, aber leider eben auch ziemlich unlebendig. Und dazwischen gab es noch wahnsinnig unwitzige Ansagen – eigentlich fast schon Jazz, mit dem jedes üble Klischee von Jazzverächtern bestätigt werden konnte. Und dann trat auch noch Vivienne Aerts auf, von Werner als die Beste Sängerinnen des Universums seit Äonen vor dem Urknall angesagt, was dann auch nur im üblichen Jazzklische (weg mit den Sängerinnen!) wahr war – wie Dietmar oben schon beschreibt, hat man selten eine so tote Version vom doch so feinen Gerswin-Song „Embraceable You“ gehört. Dass Aerts auf der riesigen Bühne so nah zu Liebman stehen musste (er blieb das ganze Set hinüber sitzen), dass sie schon fast auf seinem Schoss sass, war zudem ziemlich befremdlich – es mag sein, dass sie damit den gypsy in Lieb herausgebracht hat, aber sonst regte sich da gar nichts, ausser dass der Körper sich mit reflexartigem Schnappen Sauerstoff hinzufügen musste. Wenn ich vorhin sagte, das Set wäre zu lang, dann war es aber auch so, dass die letzten Viertelstunde tatsächlich das beste war, was es da zu hören gab. Liebman am Sopran und Erskine öffneten „Get Me Back to the Apple“ (die Noten gerieten so oft ins Bild auf den Grossleinwänden links und rechts der Bühne, dass man den Titel irgendwann lesen konnte) zunächst im Duo, dann stiessen auch Werner und Weidenmüller dazu. Den Ausklang machte dann eine schöne Version von „Think of One“, einem Stück von Thelonious Monk – wobei es mich schon etwas irritierte, dass die vier auch dafür (wie überhaupt immer) Noten vor sich stehen hatten. Das beste am Set waren vielleicht, die paar Momente, wenn Liebman am Tenor loslegte – und man für Momente fast den Coltrane-Sound zu hören glaubte, verdammt kraftvoll und direkt und mit diesem Cry. Doch was Liebman damit anstellt, auch auf Platte, lässt mich schon recht oft etwas ratlos zurück, obwohl ich einiges von ihm wie oben schon erwähnt, überaus schätze. Im Gegensatz zu Lee Konitz, der sich hier als Vergleich auch anbietet (bei Sanders nur im Hinblick auf das Singen, um Puste zu sparen), kriegt mich Liebman aber auf einer emotionalen Ebene nur höchst selten – das ist kühle, intellektuelle Musik, kopfmusik, und ja auch sehr weisse Musik – unabhängig davon, ob man das nun ((noch)/(so)) sagen soll oder nicht.

Underwhelming, gerade nach dem überraschend guten Auftakt … und jetzt der nächste Wackler, Charles Lloyd. Erstmal ab zum Bierstand …

19:30 – CHARLES LLOYD ‚KINDRED SPIRITS‘
Charles Lloyd (ts, fl), Gerald Clayton (p), Marvin Sewell (g), Reuben Rogers (b), Eric Harland (d)
* * * *1/2

Zweifel an Lloyd waren zum Glück aber nicht angebracht – aber sowas von nicht! Seine Band spielte mit demselben Fokus, derselben Konzentration auf, wie am Vorabend die Bands von Murray und Akinmusire. BAAMM! und los geht’s, nach Sekunden war man mitten drin, und auch der Veteran, dessen leichte Detachiertheit im Gegensatz zu Liebman keine kühle oder gar kalte ist, eher eine etwas esoterisch-versonnene (ist mir an sich auch nicht sympathischer), wurde durch das zupackende Spiel der Band locker wettgemacht, und bald war auch Lloyd mittendrin im Strom. Er stellte sich aber auch gerne hinter Clayton an den Rand der Bühne und liess seinen vier Sidemen viel Raum. Clayton und Sewell – warum es die Gitarre in der Band braucht, begreife ich nicht, aber bei den Ergebnissen wird die Frage auch obsolet – spannen über weite Strecken am selben Faden, Klavier und Gitarre verzahnten sich so eng, dass sie oft wie ein einziges Instrument klangen – was total faszinierend war und zu einem Gesamtklang führte, wie er dann eben doch ziemlich ungewöhnlich war. An Stücken war mir nur der Lloyd-Perennial „Sweet Georgia Bright“ vertraut, aber das Material, das Lloyd seit den 90ern so spielt, ist für mein Empfinden kompositorisch auch sehr unprägnant – der Fokus liegt eben nicht auf dem Material sondern aus den Performances, und die hatten es auch an diesem Abend in sich. Harland/Rogers waren vielleicht die beste Rhythmusgruppe des Festivals, auch wenn sie nicht mit den allerbesten der heutigen Tage mithalten können – aber das war schon verdammt gut! Und Lloyd, wie erwähnt, stand nach einer Viertelstunde mittendrin, eine Art Kobold und Hexenmeister, der zwar die coole Pose nicht verlernt hat aber doch sichtlich genoss, was da passierte.

21:30 – RAVA SPECIAL EDTION 80th BIRTHDAY
Enrico Rava (flh), Francesco Bearzatti (ts), Francesco Diodati (g), Giovanni Guidi (p), Gabriele Evangelista (b), Enrico Morello (d)
* * * *1/2

Nach dem coolen kalifornischen Hippie gehörte das letzte Set Enrico Rava – wie erwähnt durchaus einer der Namen, der mich nach Antwerpen lockte, obwohl die Erwartungen völlig unklar waren. Ich hörte ihn live bisher bloss einmal, vor ein paar Jahren in Novara im Duo mit Louis Moholo, was wegen letzterem sehr schräg war: nach 20 Minuten meinte der Drummer ohhe Zeitgefühl, das Set sei zu Ende, stand auf und ging ab der Bühne … nach einer kurzen Pause ging das Konzert dann schon wieder weiter und Rava, der in Italien eben wirklich nur „Rava“ ist und eine Art Volksheld, wurde abgefeiert … Rava ginge übrigens auch als Ehrenbelgier durch, wir sahen beim Festival und auch sonst an diesen Tagen wieder ordentlich viel Asterix-Personal (dieses komische Dorf liegt ja eindeutig auch in Belgien). Rava also, der coole alte Typ aus Triest, der in Europa eigentlich seit dreissig Jahren niemandem mehr was zu beweisen hat, setzte mit seinem Set durchaus einen Glanzpunkt des Abends und des Festivals – waren es am ersten Abend die zwei mittleren Sets, so waren es am zweiten Abend die beiden letzten, die quasi das Feuer am Brennen hielten und direkt da weitermachten, wo es davor geendet hatte. Die Band von Rava wirkte frisch und voller Elan, Giovanni Guidi zerlegte den – leider seit dem Lloyd-Set dünn und viel zu laut klingenden – Flügel einige Male beinahe in seine Einzelteile, mit Clustern und Läufen im Stil von Cecil Taylor. Die Gitarre stiess jedoch eher in „electric Miles“-Gefilde vor, die Rhythmusgruppe machte alles locker mit, und Bearzatti bewies sich ebenfalls locker als der beste jüngere Tenorsaxer des Festivals, ein toller Solist mit einer grossen Breite an Ausdrucksmöglichkeiten und Ideen. Rava blieb derweil souverän sich selbst, während um ihn herum die Klänge teils zu explodieren drohten (er, der am 20. August tatsächlich 80 Jahre alt wurde, schaffte es auch, dass ein prächtiges Exemplar des „älteren Jazzfans mit zu langen/zu dünnen Haaren“ mit Stinkefinger gegen die Bühne aufstand und ging – ein herrlicher Moment). So wurde dieses Set wild fast bis zum Kippen in die – überaus lustvolle – Klanganarchie, die Gitarre legte wilde Ritte hin, Bearzatti und Guidi spielten wie besessene, und Rava sass cool auf dem Barhocker oder schlurfte etwas auf der Bühne herum und spielte dazwischen wunderbare, immer noch frisch klingende Soli auf mit seinem so typisch klaren Flügelhorn-Sound. Dass dann auch die olle Kamelle „Perhaps, Perhaps, Perhaps“ ausgegraben wurde (ich vermute eher in der „Quizas, Quizas, Quizas“-Version), führte weder zu einem völligen Bruch noch zur Ironisierung des drumherum Gesagten – im Gegensatz machte es deutlich, und das fand ich an diesem Set auch so toll, dass Rava schlichtweg alles machen kann, und dennoch Rava bleibt. Und dass er sich mit Leuten umgibt, die das auch alles mitzutragen vermögen. Schön!

Das Programm auf der kleine Bühne kuratierte an diesem zweiten Tag die belgische Bassistin Anneleen Boehme – wir hörten uns das erste Set an (Foto unten), weil wir am Sonntag das erste Konzert mit Bojan Z weglassen würden und ihn doch gerne mal hören wollten:

16:50 – Anneleen Boehme / Bojan Z / Pol Belardi
Anneleen Boehme (b), Bojan Z (p), Pol Belardi (vib)

Die Musik war sehr brav, ab Noten, mit gekonnten Soli – aber es war schon am ehesten der Papa der Band, Bojan Z, der auch mal ein paar Akzente setzen konnte, ohne den Kammerjazz des Trios deshalb gleich an die Wand zu fahren. Aber den wirklich grossen Eindruckt machte auch er mit diesem Auftritt gar nicht. Die folgenden Sets:

18:50 – Yskan: Sam Comerford (ts), Geert Hendrickx (g), Anneleen Boehme (b), Simon Raman (d)
20:50 – Grand Picture Palace: Anneleen Boehme (b), Rob Banken (bcl), Cedric De Lat (t), Berlinde Deman (tuba) , Matthias De Waele (d), Laura Kennis (v), Linde Verjans (v), Juno Kerstens (vc)
23:00 – Ara Sextet: Kirke Karja (p), Yuri Rhodenborgh (g), Pol Belardi (vib, moog), Mathieu Penot (d), Bojan Z (rhodes, synth), Anneleen Boehme (b)

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #156 – Benny Golson (1929–2024) – 29.10.2024 – 22:00 / #157 – 12.11.2024 – 22:00 / #158 – 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba