Antwort auf: Ich höre gerade … R&B!

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friedrich

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Dieses Album hatte ich eigentlich nur mit-bestellt, um Versandkosten zu sparen. Ich kannte Beyoncé so gut wie nicht. Ich höre kein Radio, ich streame keine Musik, eigentlich kannte ich bloß Bilder von Beyoncé. Ein Mega-Popstar, irgendwo zwischen Diana Ross und Madonna.

Selten wurde ich durch ein Musikalbum so positiv enttäuscht.

Beyoncé – Lemonade (2016)

Eigentlich sprengt dieses Album einem bloßen „Ich höre gerade …“- Thread, denn Lemonade ist so komplex und vielschichtig, das man es in ein paar wenigen Worten gar nicht beschreiben kann. Musikalisch springt es durch die verschiedensten Stile von Gospel über Country und Rock bis zu Hip Hop und ist allein schon daher nicht auf einen Punkt zu bringen. Es gibt keinen für Lemonade typischen Track! Und auf der textlichen Ebene (wenn ich das etwas gestelzt mal so nennen darf ;-) ) wird offenbar ein solch breites Spektrum abgedeckt, dass ich es als nicht-englischer -Muttersprachler nur in Ansätzen erfassen kann. Überhaupt: Sehr viel Text, nicht nur in den Songs selbst, auf der zum Album gehörigen DVD gibt es einen ganzen Film, in dem u.a. aus dem Off Gedichte der Lyrikerin Warsan Shire zitiert werden.

@krautathaus schrieb, dass ich mir unbedingt den Film zum Album anschauen solle. Nichts ist wichtiger als das und gleichzeitig ist das nur die halbe Wahrheit. Denn eigentlich ist das Musikalbum der Soundtrack zum Film, nicht umgekehrt. Szenen aus den „guten alten Südstaaten“ der USA (jedoch mit schwarzen Frauen in der Kleidung der Gutsherrinnen), Traumsequenzen, spektakuläre Tanzeinlagen, die zornige Beyoncé, die ihrem Noch-Ehemann den Ehering entgegenschleudert, das überflutete New Orleans. Auf einem Familienvideo sagt die Großmutter von Beyoncé zu ihrem 90. „I was given lemons, but I made Lemonade.“ Und das Verhältnis von Musik zu Bild ist manchmal so, dass sich dadurch eigenartige Bedeutungsverschiebungen ergeben (falls man das so sagen kann …) und man die Musik danach ganz anders hört.

Was sich in meinen Ohren, Augen und meinem Gehirn erst nach mehrmaligen Hören und Sehen zusammengesetzt hat, ist ein Statement von afro-amerikanischem Stolz, von Trotz, Aufbegehren und Unbeugsamkeit. Und dazu: Das Statement einer Frau „who would not take it anymore“, ein feministisches Manifest. Das alles vorgetragen mit einer Stimme die nicht zu überhören ist, die aber auch manchmal bricht, mit einer weiblichen, erotischen Körperlichkeit, die fast schon Angst macht. Eine Wucht!

Alles andere als leichter Pop. Und so paradox es klingt, denke ich am Ende nicht nur „Say it loud, I‘m black, I‘m female and I‘m proud!“, ich wünsche mir als weißer mitteleuropäischer Mann sogar „I wanna be black and I wanna be female!“

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)