Antwort auf: Musik im Wandel der Zeit: Wie Musik sich verändert

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bullschuetz

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demon Eine Schulstunde hat nicht ohne Grund 45 Minuten. Die Laufzeit einer Lp war ein menschlicher Glücksfall. Der Glaube, CDs prinzipiell randvoll pressen zu müssen, war ein Irrweg.

Ein Glücksfall? Ein Zufall.

Dem technologisch limitierten 45-Minuten-Format der klassischen LP nachträglich eine Art naturgesetzliche Perfektion anzudichten, halte ich für schwierig. Ich bezweifle, dass da eine Art höhere Weisheit der Technikgeschichte uns mit einem ästhetisch vollendeten Zeitmaß gesegnet habe, das haargenau unserer Aufmerksamkeitsspanne entspreche.

Wollte man der Logik von der 45-minütigen Aufmerksamkeitsspanne folgen, wären die in Hollywood ja echte Deppen, wenn sie Spielfilm drehen, die durchschnittlich zwei Stunden lang sind. Und der gemeine Binge-Watcher schafft doch locker vier 50-Minuten-Folgen einer Serie hintereinander weg. Das Argument mit der Schulstunde überzeugt mich auch nicht – erstens bin ich kein Schüler mehr, zweitens kann ich durchaus auch mal mehrere Stunden am Stück konzentriert an meiner Arbeit oder der Lektüre eines Buches dranbleiben.

Zusammengefasst: Ich halte es für einen Mythos, dass die klassische LP die ästhetisch perfekte Länge hat – es ist schlicht diejenige Länge, mit der Künstler im Laufe der zwanzig oder dreißig Jahre, da die LP das hegemoniale Format war, sinnvoll umzugehen und Meisterwerke zu schaffen gelernt hatten; und eben schlicht die Länge, an die wir Hörer uns gewöhnt hatten. Wenn eine LP nur 20 Minuten oder aber 80 Minuten fassen hätte können, erschiene uns mit dem Format Sozialisierten heute eben diese Länge „passend“.

Obendrein sind doch manche Doppelalben keine Sekunde zu lang, während ich mich bei manchen Einzel-LPs schon in der Mitte von Seite 1 beim Abschweifen ertappe. Das alles hat auch sehr viel mit der Qualität zu tun, die der Hörer in einem Kunstwerk zu erkennen glaubt. Man kann ja auch nicht sagen, dass das perfekte Buch 250 Seiten haben muss – manche sind mit 180 zu lang, andere mit 1000 grade richtig.

Deinen Endruck von der CD teile ich allerdings tendenziell: Mit der Spieldauer einer CD konnten viele Künstler anfänglich nicht recht umgehen. Da geriet dann immer wieder mal viel Füllmaterial drauf. Aber in den Anfangstagen der LP war das doch auch nicht anders: Künstler und Firmen, die von der Single her kamen, produzierten LPs mit einem recht fragwürdigen Killer/Filler-Anteil. Ich schätze mal, damals gab es sicher Leute, die das neue LP-Format ablehnten und glaubten, nur in der Single erfülle sich der Sinn der Popgeschichte. Diese Skepsis finden wir doch überall, wo technologische Innovationen sich Bahn brachen: Theater-Experten verdammten den Film, Stummfilmverehrer lehnten den Ton ab, Schwarz-Weiß-Freaks verdammten die Farbe.

Der Reiz der gerade angebrochenen Post-Album-Zeit liegt für mich gerade in den vielen Möglichkeiten der Montage, der De- und Rekontextualisierung, Stichwort Playlist. Daneben wird der abgeschlossene, in einer vorgegebenen Reihenfolge zu hörende Liederzyklus natürlich weiter seine Bedeutung behalten, wobei die Länge aber viel weniger festgelegt sein wird – warum nicht mal bloß 20 Minuten? Warum nicht mal 120 Minuten?

Inwiefern all das aber grundlegend neu ist? Da grüble ich grade beim Schreiben. Denn auch in den 60er-Jahren existierten all die Möglichkeiten schon nebeneinander: Doppel-LP, Einzel-LP, Single, Playlist (im Radio oder beim berühmten Mix-Tape). Allenfalls werden nun die Grenzen fließend: Vom einzelnen Lied bis zur Endlosschleife geht quasi alles.

zuletzt geändert von bullschuetz

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