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herr-rossiMit Adorno verglichen zu werden, ist aber auch echt schweres Geschütz, das sehe ich ein.;-) Ich habe Dich nicht persönlich angegriffen, sondern nur Aussagen von Dir gespiegelt, die das von mir gesagte bestätigen. Was Neely angeht, hast Du einen komplett anderen Clip als ich gesehen. Er verherrlicht nicht die Jugend und erzählt an keiner Stelle die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit, sondern er versucht zu vermitteln, dass in dem mächtigen und auch in den sozialen Netzwerken millionenfach geteilten Narrativ von „früher war die Musik viel besser als heute“ Mechanismen stecken, die mit der Biographie der Menschen zu tun haben, die diese Einschätzung teilen. Da kann man psychologische und entwicklungsmäßige Tatsachen nicht einfach als „Biologismus“ ausblenden. Das sind mächtige Faktoren. Ihm (und mir) geht es dabei nur darum klarzumachen, dass man sich bei der Beurteilung von Musik und musikalischen Entwicklungen seiner eigenen Prädisposition bewusst werden sollte, um dadurch das eigene „Bauchgefühl“-Urteil zu relativieren. Er spricht aus der Position eines Musikers und Musiktheoretikers, der sich mittlerweile mit völlig anderer Musik als der seiner eigenen Jugend befasst. Den Clip muss man einerseits als Antwort auf viele andere Clips verstehen, die sich blind dem „es wird immer schlimmer“ hingeben, und andererseits im Kontext seines Kanals, den man nicht ernsthaft mit irgendwelchen Beauty Guru- oder Lets Play-Kanälen gleichsetzen kann. Aber Du wirst es weiterhin anders sehen, also lassen wir es dabei.
Wo habe ich das denn alles gesagt? Ich will die „Normalos“ doch überhaupt nicht zum Maßstab für „uns“ machen, sondern nur bescheiden darauf aufmerksam machen, dass „sie“ schon immer die Hauptkonsumenten der Musikindustrie waren und nicht „wir“. Mir geht es einzig darum, dass bei den ganzen „Streaming und Algorithmen töten Musik und Alben als Kunstform“-Aussagen auch hier oft übersehen wird, dass es eben immer schon sehr unterschiedliche Typen von Musikhörern gab und „wir“ noch nie das Hauptziel dieser Industrie waren. Ich sehe allerdings auch keinen Grund zur Überheblichkeit. Jeder von uns ist in manchen Bereichen des Lebens, Wissens und der Kultur ein Ignorant, um den sich dann „gekümmert wird“. In einer so komplexen Welt wie der unseren geht das gar nicht anders, niemand kann alles wissen und durchschauen und sich überall zum Spezialisten entwickeln
Mich stört kein launiger Vergleich mit aufgeschnappten und zu Slogans verkürzten Formulierungen aus dem Werk Adornos und Horkheimers, sondern die Implikation, der musikalische Reifeprozess sei nach Beendigung der Pubertät weitestgehend abgeschlossen und überhaupt ein Produkt der Hirnchemie, ähnlich dem Genuss von Partydrogen. Plötzlich ist man ein Junkie, der sich nicht gegen die Musik seiner Jugend zu wehren und behaupten weiß. Denn – cut the crap – darum geht es im Video von Neely: Eine Ausrede zu finden, warum man sich von musikalisch wenig Ergiebigem nicht trennen will. Eine Flucht in Nostalgie und Banausentum, die man noch mit pseudo-medizinischen Vorteilen unterfüttert.
Ich habe im Laufe meines Lebens als Musikhörer (und auch als Musiker) immer wieder Offenbarungen erlebt; Musik, die oft unmittelbar neue Bereiche aufschloss, neue Perspektiven erlaubte – und vor allem begeisterte. Ich verwahre mich gegen die Annahme, man könne derartige Epiphanien nur im frühen Jugendalter erleben. Ich glaube, mir tun sogar Menschen leid, die nach ihrer Adoleszenz zu diesem Empfinden nicht mehr fähig sind. Diese Art der Verkrüppelung erscheint mir als eine der schlimmsten.
1/2 Mensch.
Manchem mag die Abgrenzung von „Normalos“ arrogant oder elitär erscheinen, wohin jedoch die unreflektierte Einbindung der Massen in Entscheidungsprozesse führt, kann man gerade wunderbar beim BREXIT sehen. Der Großteil der Berieselten hat keine Relevanz für meine Playlist, dafür aber die unangenehme Angewohnheit sich eine Deutungshoheit per Anzahl zu verschaffen. Das Diktat der Mehrheit, gestanzt in das dümmste aller Mottos: Was Erfolg hat, muss auch gut sein. (Politisch ist dies noch verheerender, wenn ein Haufen Unbedarfter: „Wir sind mehr!“ brüllt. Ach, darum geht’s? Und wenn die Gegenseite plötzlich in der Überzahl ist?)
Und hier geht es nicht nur um irgendeine Nordseeinsel, sondern um Pop-Musik.
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Come with uncle and hear all proper! Hear angel trumpets and devil trombones. You are invited.