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schöner rückblick @wahr – ich kenne natürlich längst nicht alles, aber ein paar gedanken und kommentare steuere ich gerne bei.
zunächst zu henry threadgill – die so unterschiedliche sicht auf die zwei jüngsten alben kann ich nur schwer nachvollziehen, in der richtung mag deine beobachtung zutreffen, aber gerade die mischung aus organsation und freiheit, aus improvisation in vorgegebenen rahmen (die natürlich nicht standard-akkord-schemata entsprechend sondern z.b. mit rhythmischen oder melodischen motiven, man mag sie „zellen“ nennen, funktioniert) charakterisiert sein schaffen schon seit längerem … ich bin versucht zu sagen: charakterisiert sein spätwerk, und dieses mit der entstehung der band zooid vor knapp 20 jahren einsetzen zu lassen – aber wer weiss, vielleicht überrascht threadgill uns ja alle nochmal und findet noch einmal etwas ganz anderes. ich möchte dich jedenfalls ermutigen, da weiter dranzubleiben, z.B. mit folgenden aufnahmen: „air song“, „air raid“ oder „air time“ (die ersten zwei whynot, das letzte nessa) mit dem trio air (henry threadgill, fred hopkins, steve mccall), dann unbedingt „just the facts and pass the bucket“ (about time) und vielleicht noch „tomorrow sunny / the revelry, spp“ (pi) … für mich ist threadgill ohne zweifel eine der interessantesten stimmen des jazz seit den späten sechzigern – neben anthony braxton (bei dem ich angesichts eines ausufernden werkes keinen guten überblick habe) oder roscoe mitchell (der mir vom temperament her noch etwas lieber ist als threadgill, aber die zwei kann man eigentlich kaum vergleichen … auf „made in chicago“ von jack dejohnette bei ecm sind sie gemeinsam zu hören, ebenfalls der grosse muhal richard abrams am klavier).
marion brown – da würde ich mich auch nicht gerade als spezialisten bezeichnen, aber unbedingt zu empfehlen ist das grossartige erste album auf esp-disk‘, „marion brown quartet“ – es hat eine etwas verzwickte veröffentlichungsgeschichte mit einem falschen/zusätzlichen track, daher ist es wichtig, dass man die richtige cd-ausgabe (gut hast du dich mit dem medium versöhnt!) erwischt, auf der alle tracks zu finden sind. das ist diese hier, esp 4011 (USA, 2005):
https://www.discogs.com/Marion-Brown-Marion-Brown/release/4510904
„why not“, das nachfolge-album auf esp-disk‘ ist ebenfalls sehr gut, auch „three for shepp“ auf impulse! … „juba lee“ kriegt man leider nicht in einer vernünftigen ausgabe, ans ecm-album komme ich nur halbwegs ran (das klappt aber bei @vorgarten viel besser wenn ich mich nicht täusche, und ich hab auch lange keinen anlauf mehr genommen), in der „2-on-1“-cd-serie bei impulse!/universal ist zudem ein feiner, aber musikalisch ganz anders gearteter twofer von brown zu finden, „geechee recollections/sweet earth flying“ (die alben sind 1973/74 entstanden und ziehen u.a. text mit ein, wadada leo smith taucht auf, ebenso die gerade erwähnten steve mccall und muhal richard abrams, aber auch paul bley und jumma santos). ob man spätere alben von brown braucht oder nicht, muss man selbst rausfinden. ergänzend kann man sich „the group live“ auf nobusiness gönnen (brown mit ahmed abdullah, billy bang, sirone, fred hopkins und andrew cyrille, rec. 1986)
und nach john tchicai fragst du zwar nicht, aber ungebeten dies: schau mal, ob die alben des new york art quartet aufzutreiben sind, ohne arm zu werden: „new york art quartet“ auf esp-disk‘ finde ich in diesem fall das weniger interessante, aber „old stuff“ (eine cd auf cuneiform) ist super. die gruppe bestand aus roswell rudd, tchicai, lewis worrell und milford graves (esp) bzw. rudd, tchicai, finn van eyben und louis moholo (cuneiform), auch das album „roswell rudd“ (america, gab es in der „free america“ cd-series bei universal mal wieder) ist in wahrheit das nyaq (in der zweiten besetzung, also bereits in europa). tchicai war in den usa auch teil der new york contemporary five mit don cherry/ted curson, archie shepp, ronnie boykins und sunny murray (split savoy-album mit bill dixon und mehr, am einfachsten dürfte der (nicht ganz vollständige, glaub ich) storyville-twofer zu finden sein, „archie shepp & the new york contemporary five“. er wirkt zudem auf mehreren klassischen alben des new jungle orchestra um den gitarristen pierre dorge mit, und natürlich auf johnny dyanis „witchdoctor’s son“ mit don cherry und „angolian cry“ mit harry beckett (alles steeplechase). tchicai war mit einer nachbarin befreundet und ich hatte vor ein paar jahren mal das vergnügen, ihn in empfang zu nehmen (ich hörte ihn auch – nur kurz, leider, an einer schule über mittag – spielen) und wir sassen damals länger bei uns in der küche und quatschten … unvergesslich! sehr toll, und vinyl only, ist dann auch „tribal ghost“ (nobusiness) mit charlie kohlhase, garrison fewell, cecil mcbee und billy hart (rec. 2007) – holen, so lange das noch geht!
larry young mag aus heutiger sicht etwas gepflegt wirken – er war damals aber der erste (und blieb eigentlich der einzige) organist, der die aufbrüche coltranes so halbwegs auf sein instrument übertrug … mag sein, dass „into somethin'“ mit sam rivers oder „mother ship“ eher für dich wären? vielleicht kannst du ja online mal irgendwo ein ohr voll nehmen.
bei freddie hubbard bin ich eher etwas skeptischer bzw. ich habe mich längst mit ihm versöhnt (vielleicht ist der mitschnitt aus dem onkel pö’s was für dich? vinyl und cd, wenn mich nicht alles täusch), aber ich höre seine alben eher selten … bei herbie hancock geht es mir aber wie @vorgarten: ich möchte ohne seine musik, besonders ohne seine blue note-alben, nicht sein! ich habe die alte box mit den „complete blue note sixties sessions“, in der es ein ausführliches booklet gibt, das für den ganzen zeitraum (1962-69) auch die anderen sessions durchgeht bzw. kurz highlights und mehr erwähnt. mit dieser kontextualisierung – die weit über miles davis‘ second quintet hinausgeht, aber dieses ist schon als dreh- und angelpunkt zu sehen – wird es umso eindrücklicher, war hancock schon in diesen jungen jahren gemacht hat (note to self: ich muss seine autobiographie kaufen!)
zu wayne shorter: warum fehlt wohl gerade „speak no evil“ in dieser albums-box? das album höre ich irgendwie neben „out to lunch“, das mag seltsam klingen, aber für mich geht da ähnlich viel ab wie bei dolphy, und ähnlich unerwartetes, aber natürlich auf shorters eigene art, die viel zurückhaltender ist (aber ohne den „restraint“, den ich bei joe henderson, um noch eins der besten pferde aus dem damaligen bn-stall ins rennen zu lassen, manchmal höre … hast du die fünf alben mit kenny dorham schon mal angehört? zudem „mode for joe“ und noch mehr „inner urge“) – alles beeindruckender stoff, blue note hatte schon ein händchen, und wenn man sich so anhört, was anderswo damals lief, geht die leistung von lion/wolff schon weit über die „richtige auswahl“ hinaus – die aura existiert halt wirklich … und ja, die verschwörungstheoretischen untertöne in shorters graphic novel sind wirklich schwer auszuhalten (aber sie gehen nicht über das genretypische hinaus, vermute ich mal – dystopien sind ja sowas wie der normalfall von superheldencomics?)
bei andrew hill rate ich dann mal zu „judgement“ als nächstem berührungspunkt, aber eigentlich überhaupt zu fast allen seinen blue note-alben, „black fire“, „smokestack“, „andrew!!!“, „compulsion“, „grass roots“, „dance with death“, „passing ships“, „lift every voice“ … und auch das späte „timelines“ (und wenn das was ist, die vertonung von jean toomers „cane“ als „dusk“ sowie die big band in „a beautiful day“, beide palmetto)
dein urteil zu oliver nelson kann ich bestens nachvollziehen – bei mir kippte die reserviertheit gegenüber diesem so durchdachten, strukturierten spiel (ich gehe davon aus, dass manche soli im voraus genau ausgearbeitet wurden) in ziemlich grosse faszination, die bis heute nicht mehr aufhört … nelson ist zudem ein meister der stimmungen, das wird in „blues and the abstract truth“ natürlich klar, aber auch z.b. auf „nocturne“ (prestige). zudem ist „straight ahead“ (prestige) wenigstens so toll wie „blues“, da hat die aura von impulse! leider stark verzerrend auf die historie gewirkt (und die erste begegnung mit dolphy, „screaming the blues“, ebenfalls auf prestige, ist natürlich auch nicht zu verachten, aber etwas konventioneller).
eric dolphy war überdies ein spätzünder (wie coltrane) – erst mit 30 jahren ging es so richtig los, als er in die band von chico hamilton kam. die wunderbare version der „ellington suite“ verschwand allerdings sofort wieder; eine testpressung tauchte in den 90ern in england auf und blue note/emi/capitol/manhattan/pacific/whoever brachte das ding damals dann auch auf cd heraus – das beste album von dolphys zeit bei hamilton, denke ich. „truth“ ist auch ganz gut, aber die aufnahmen verraten insgesamt noch längst nicht das immense potential dolphys.
dass cecil taylor bei dir so eingeschlagen hat, freut mich übrigens sehr!
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ps: mit dem genörgel über die kleinschreiberei ist es wie mit dem murmeltier …
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