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Zu JWH:
bullschuetzIch schätze, Du kommst schon wieder mit dem Leben davon. Klar ist die Platte karg, klar ist sie nicht geschmeidig, klar „rockt“ sie nicht (Bass und Schlagzeug sind grandios schluffig). Mit den Attributen komme ich gut klar – und führe „karg“ selber auf der Liste meiner Gründe, weshalb ich JWH phantastisch finde: ein faszinierender Fall von „weniger ist mehr“. Und um Dir auch mal einen Grund zu geben, mich totzuschlagen: Ich ziehe die originale Watchtower-Version der Hendrix-Fassung vor – eine beängstigend einsame Endzeitlandschaft, durch die ein schneidender Mundharmonikawind pfeift, da wächst nichts mehr, bloß noch ein paar Tumbleweed-Büsche torkeln vorüber. Groß. Mir sagt da Hendrix mit vielen „Worten“ (Noten, Effekten, Hakenschlägen) weniger, auch wenn ich seine Aufnahme hoch schätze. Bei Dylan passt für mich die karge Musik perfekt zu diesem Text, der so vieles andeutet und so vieles verschweigt, so vieles evoziert und so vieles offen lässt. „Etwas zu wenig Musik“? Ja, eher wenig. Ich verstehe Deinen Vorbehalt. Bloß teile ich ihn nicht.
Zu BOTT:
bullschuetzIch weiß nicht, ob ich dieser Beschreibung trauen soll. Klar, es gibt Lieder, die danach schreien, so gelesen zu werden. Klar, Dylans schnoddrige Behauptung, dass das in Wahrheit bloß vertonte Kurzgeschichten von Tschechow seien, ist wohl auch eine Finte. Und doch: Wenn man BOTT rein als Bekenntnis-Platte, als Authentizitäts-Ausbruch beschreibt, greift das für mich zu kurz und schneidet die Faszination ab, die von der Platte ausgeht: Mir erscheint sie grade als meisterhaftes Spiel mit Authentizität und Brechung, Autobiographischem und Fiktionalen, das irisiert zwischen diesen Polen, fast ist die Platte ein Lehrstück darüber, wie man Autobiographisches als Startrampe nutzen kann fürs Rollenspiel und wie man das Rollenspiel mit Autobiographischem aufladen kann. Versuch mal zu packen, worum es in Tangled up in Blue geht – erzählen da überhaupt alle Strophen von derselben Frau? Wie passen da die Zeitebenen zusammen und passen die alle in ein Leben? Ist das eine Erzählung oder sind es Erzählungen?
Grundsätzlich misstraue ich immer der Gleichsetzung des „Ich“ eines Songs mit dem Ich des Sängers. In BOTT steckt doch mehr Vexier- ujnd Rollenspiel als die gängige Deutung, dass Dylan da mal so richtig sein Herz ausgeschüttet habe, nahe legt.
Gut gesprochen! Sehr geistreiche und nachvollziehbare Gedanken. Ob ich sie teile, weiß ich noch nicht. Auf jeden Fall finde ich Deine Gedanken zu BOTT sehr interessant und anregend. Klar, BOTT ist nicht eindeutig und gerade Tangled Up ist ein Vexierbild mit wechselnden Akteuren oder wechselnden Inkarnationen der gleichen Figuren oder so. Bob Dylan hat ja wohl kaum als Holzfäller oder Fischer gearbeitet.
Insoweit trifft meine Behauptung des Bekenntnishaften und Authentischen nicht zu, vielleicht ist die Formulierung auch nicht richtig. Ich habe aber schon das Gefühl, da wühlt jemand in den Tiefen seiner Seele, versucht sich und seine Beziehungen zu anderen (wohl einer oder mehreren Frauen) irgendwie zu begreifen oder wenigstens abzubilden – ohne dass ihm das eindeutig gelingt. Kann ja nicht. Die Personen treten in immer wieder verschiedenen Rollen auf. Vielleicht könnte ich eher die Behauptung des Ernsthaften, Tiefgründigen, Suchenden und Rätselhaften aufstellen?
Wie auch immer. Auch BOTT wird von mir sehr geschätzt. Etwas spröde bleibt sie in meinen Ohren trotzdem. Aber das ist auch kein Widerspruch.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)