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SokratesStilistische Vielfalt bzw. einen Mangel daran habe ich nicht bestritten – ich sprach davon, dass die Tracks musikalisch nicht sehr entwickelt sind. Wenn man ein Album schnell aufnimmt, wie Du schreibst, dann hat man für Entwicklung eben wenig Zeit. Wollte er vielleicht gar nicht. Wobei man bei den Blues-Nummern nicht viel machen kann – da gibt die enge, strenge Form nur wenig her.
Ich hatte extra auf die Musik abgestellt. Da ist kein Einfluss hörbar. (Falls ja, bitte mal ein Beispiel, mir fällt keins ein, außer vielleicht „You’ve Got Hide Your Love Away”.) Mitte der Sechziger wurden die Beatles-Texte persönlicher, drogiger etc. – ich würde Dylans Einfluss dort ansiedeln.
Selbst wenn es einen hörbaren musikalischen Einfluss gäbe: Man kennt aus den Wirtschaftswissenschaften den Fall vom Zweiten am Markt, der den Innovatoren noch überflügelt – dann hätten die Beatles es i.S. dieses Gedankens eben besser gemacht.
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Ich wollte und will aber gar keine künstliche Konkurrenz erzeugen, sondern einen Vergleich anregen.
Der Verdienst dieses Albums liegt durchaus im Text, also im geschriebenen Wort. Das habe ich ausgeklammert, weil es aus heutiger Sicht kaum noch ein Thema ist. Aber Mitte der Sechziger so offen z.B. von Drogen zu singen, war damals bestimmt noch ein Aufreger.
Jemand, der noch nie Dylan gehört hat, käme jetzt vielleicht auf die Idee, es handle sich bei Blonde on Blonde um ein Blues oder Blues-Rock-Album. Das ist es ja nun gar nicht, obwohl der Blues auf jeden Fall ein wichtiges Element der Musik Dylans ist. Im Gegenteil, Blonde On Blonde illustriert die Vielfalt von Dylans Einflüssen, die er aber immer in ureigenster Weise umsetzte. Die Vielfalt äußert sich nicht nur in den Texten, sondern auch der Musik. Die schneidende Aggressivität von „Stuck Inside“ oder „One Of Us Must Know“ steht die – wie gesagt – säuselnde, fast würde ich sagen Niedlichkeit von „I Want You“ gegenüber. Wie gesagt: Von mangelnder Entwicklung kann ich da nichts erkennen.
Man sollte außerdem bedenken, dass Dylan alle Alben bis Desire (1976) in weniger als 80 Tagen Studiozeit aufnahm. Dylan war nie ein Studioarbeiter und ein Anhänger der These, dass man im Studio die Musik verfeinern oder entwickeln könne. In dieser Zeit war Dylan ein ungehemmter Quell an Liedern, die in fast beängstigendem Tempo aus ihm herausströmten. Glücklicherweise hatte er immer die Möglichkeit, sie aufzunehmen, so dass wir sie heute noch hören und genießen können. Das soll um Gottes Willen nicht als Rechtfertigung des Albums verstanden werden, denn das benötigt es überhaupt nicht, sondern lediglich als Illustration der Arbeitsweise. Dass es so vollendet klingt, wie es das tut, liegt daran, dass Dylan eine ganze Reihe herausragender Musiker zur Verfügung stand, die seine Ideen perfekt umsetzen konnten. Das Album sprüht vor musikalischen Details, die man auf diesem Niveau selten findet.
Zum Argument der Texte: Das ist nur eine Facette: Natürlich sind die Texte nobelpreiswürdig, aber genauso wie Cohen hätte Dylan ausschließlich Schriftsteller werden können, wenn es ihm nur um Texte ging. Die Magie des Albums liegt im Zusammenspiel von Text und Musik und in dieser Hinsicht stellt es eine Erfahrung da, die heute auch noch viele jüngere Hörer unmittelbar trifft. Dass die 1960er eine andere Zeit waren, ist bei Blonde on Blonde etwa so wichtig, wie die Tatsache, dass Shakespeare Romeo and Juliet im 16. Jahrhundert schrieb. Das sind universelle Werke mit universellen Themen, die Zeit und Raum transzendieren.
Ich bin nicht der große Beatles-Experte, aber mir ging es ja um Texte und Themen, das sagte ich ja bereits oben. Daher überlasse ich das den Beatles-Experten. Mir ging es nur darum, dass der Dylan-Beatles-Produktionsvergleich Äpfel mit Birnen vergleicht. Wie lange brauchten die Beatles für „Sgt. Pepper“? 170 Tage? In dieser Zeit hat Dylan ungefähr 30 Alben aufgenommen.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.