Antwort auf: 2018: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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vorgarten

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jazzfest berlin, tag vier.

what the world needs now is love. bill frisell endet mit bacharach. zuvor hatte er sich einen kokon aus freundlichkeit und solipsismus gebaut und ließ uns kurz hinein. kleine motive, eingehüllt in voraussetzungsvolle harmonien, die sich in weite landschaften träumen, geloopt, sich selbst zuzwinkernd, von großer wärme und intimität. gut gesetzte kleine brüche mit möglichkeit zum applaus oder zur flucht: „lush life“ plötzlich, dann monk. dann eine 30-minütige suite, bei der sich der kokon noch ein stückchen weiter öffnet. „music is“ heißt sein neues soloalbum. ein passendes ende für einen hervorragend kuratierten schlusstag, an dem vielleicht tatsächlich so etwas wie die „reine“, von allen politischen verstrickungen befreite musik präsentiert werden sollte. aber dann bacharach am ende… vielleicht ist das doch eine politische geste: das kleine, wertvolle, intime, der selbstgebaute kokon ist zu verteidigen, in zukunft und auch jetzt schon. bill frisell, auf dem orientteppich, der nicht fliegt, mit kuscheltieren, die ihm die einsamkeit nehmen, mit seiner freundlichkeit, die uns einlädt.

das wetter macht mit beim „melancholic sunday“. das himmelgrau hat eine qualität, wie sie nur berlin an manchen sonntagnachmittagen im november und februar entwickeln kann. ich werde schon beim fahrradabschließen angemeckert, da ich angeblich jemandem den besten laternenpfahl weggeschnappt hätte. das gemeckere geht in der kaiser-wilhelm-gedächtniskirche beim beharren auf die letzten plätze weiter (dabei müsste man ja nur 20 minuten warten, dann gehen ja die ersten schon wieder). die kirche als programmatische herausforderung, die aber eine orgel in petto hat, wird erwartbar mit statischen klängen gefüllt, die sich auf estland, also auf pärt beziehen. maria faust kommt ja auch aus estland, hat drei streicher, ein klavier und einen weiteren saxofonisten dabei und spielt provokant unterkomplexe kollektivfiguren, die nicht swingen dürfen, aber auch nicht immersiv sind. der große goldene christus, der über ihnen im blau schwebt, scheint seine ausgebreiteten arme dazu zu benutzen, die klänge am aufsteigen zu hindern. für das aus improvisationen entstandene orgelstück von kara-lis coverdale, das sich ohne unterbrechung anschließt, werden wir vielleicht deshalb ins dunkel getaucht, und der christus wird zum schwarzen schatten. coverdale hat auch estnische wurzeln, dazu einen bezug zu sakraler musik, arbeitet aber eigentlich eher mit tim hecker zusammen und ist teil der elektronik-szene von montréal. es passiert, was passieren muss, wenn man einen menschen mit klangforscherischen ambitionen an die kirchenorgel lässt: aus leisen dissonanzen heraus machen töne merkwürdige dinge miteinander. zwischendruch wird es arg harmonisch, auch die erwartbare donnerpassage gibt es, aber die frequenzen und der raum machen sich schöne angebote. wir im dunkeln könnten jetzt eigentlich, wie vor drei tagen von ndikung angeregt, eine community bilden und uns heilen. aber es gehen schon wieder so viele raus.

finale mit gitarren. vor frisell tritt der norweger kim myrh auf, der auf hubro ein album mit drei experimentellen schlagzeugern gemacht hat. die sind jetzt auch dabei, dazu aber noch drei weitere gitarristen. hinten zentral spielt tony buck und ein deutliches necks-flair zeichnet den auftritt aus, nur trackhafter und auskomponierter. schöne soundwälle, die sich rhythmisch verschieben, dabei aber meditativ und rockig zugleich bleiben. danach dann artist in residence mary halvorson, die im gepsärch zuvor mal wieder ihre helden aufgezählt hatte: erst hendrix, dann ziemlich schnell bailey, dann (als lehrer) joe morris. die einladung des jazzfests ermöglicht es ihr, zum ersten mal überhaupt ihr octet nach europa mitzubringen. das, was sie und die steel-gitarristin susan alcorn als intro fabrizieren, klingt schon mal wie ein quantensprung zur norwegischen sensitivrock-klangfläche. sie bleiben dabei, frequenzen zu verbinden, ambivalenzen einzustreuen, die john hébert und tom fujiwara in stockende grooves verwandeln, um eigentlich, ganz funktional, absprungbühnen für die vier bläser zu bauen: dave ballou, jon irabagon, ingrid laubrock und jacob garchik erhalten je zwei gelegenheiten, die sie nutzen. das sind schon unfasbbar gute musiker. aber sie haben die sau nicht dabei, die sie rauslassen könnten. mary halvorson versemmelt den schluss, weil ihr mitten in der bandvorstellung auffällt, dass sie schon über die zeit ist – und dann einfach von der bühne geht. der teppich für frisell muss ausgelegt werden, die kuscheltiere warten schon.

wer sich auf frisell einlässt, wird belohnt. der rest geht meckernd. „die frau deventer“ will ja alles neu machen, da sei für „altgediente“ ja nicht mehr viel dabei, meint, sehr freundlich, mein sitznachbar. „frau deventer“ wird wohl erstmal nicht „unsere nadin“ werden. was soll jetzt so neu daran sein, wenn jemand aus aktuellen interessanten albumprogrammen etwas zusammenstellt, ein paar kontexte anbietet, sogar alte helden (mitchell, frisell) einlädt. war wadada leo smith vor zwei jahren zugänglicher als mitchell? war tyshawn sorey ein kuscheligerer artist in residence als halvorson? aber so gehen halt die erzählungen: irgendwie wird alles neu, anders, jünger, und das ist ok, aber schade.

bill frisell hat nach bacharach noch eine überraschung für uns. ein medley aus „tenderly“ und „the nearness of you“? nein – er bittet mary halvorson zum duett auf den kuscheltierteppich. what the world needs now is a young (female) guitar player. beide treten in die pedale und verstricken sich leise in ihre ganz individuellen americana-schluckaufs. eine schönere staffelübergabe, bei der der stab am hellsten strahlt, kann man sich als schlussbild nicht ausdenken.

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