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Zur Sache.
Track #01
Ein abrupter Einstieg. Die holzschnittartige Aufnahmequalität lässt vermuten, dass das Stück aus den frühen 50ern stammt. Ich mag das ganz gern, das klingt zwar nicht so filigran, dafür umso kompakter und auf den Punkt gebracht. Nervös wirkende drums & bass, abrupte breaks. Schön darüber tanzendes Sax. Noch ganz schön bebop-ig, oder?
Track #02
Das hört sich an wie ein Zeitsprung, wenngleich das auch noch eine Mono-Aufnahme ist. Das mehrstimmig arrangierte Bläserthema gefällt mir gut. Mir gefallen solche aneinandereibenden Bläser überhaupt oft gut. Sehr lebhaftes, nach vorne gehendes Sax und dann gibts den Parcour der anderen Solisten. Gegen die ich nichts einzwenden habe. Der Swing hält das ganze zusammen aber was für mich das Stück macht, ist die durcharrangierte gemeinsame Bläserpassage, die am Ende ja noch mal zurückkommt.
Track #03
Flottes Trio mit Klavier, bass & drums. Der Pianist ist großartig, sehr lebhaft, sehr rhythmisch, tänzerisch, akzentuiert, groovy das lässt mich an einen Boogie denken. Bass & drums grooven sehr schön, der drummer setzt auf den Toms kleine Akzente, was noch etwas mehr Pepp bringt. Sehr tightes Trio. Das ist foot tapping und finger snipping music. Macht richtig Spaß und gefällt mir sehr gut!
Track #04
Ein etwas behäbig wirkendes Tenor mit einem etwas schlichten Thema. Toll wird es, wenn die anderen Bläser einsetzen. Da wird das schlichte Thema mehrstimmig und die Klangfarben reiben sich sehr schön aneinander. Klingt etwas altmodisch im positiven Sinne, ich meine Jahrzehnte von Jazztradition mitzuhören. Hat was von einer Brass Band. Klar, dann hat einer nach dem anderen sein Solo, das ist vielleicht etwa vorhersehbar, aber die rhythm section hält die Sache sehr schön am Laufen und die Spannung. Und zum Schluss wieder zurück auf Los.
Track #05
Die rasenden Läufe am Anfang beboppen in meinen Ohren ganz schön. Die drums vibrieren mehr als das sie einen beat vorgeben. Definitely keine foot tapping music, da fangen eher meine Finger an, nervös zu zucken. Nicht so wirklich meine Tasse Tee und ich frage mich, wie dieses Stück in den Hard Bop-BFT geraten ist?
Track #06
Drastisches melodisches Kontrastprogramm. Eine Ballade mit vibrierender Trompete, die den Schmalz kaum umschifft. Das Vibraphon klingt nach Liebespaar unterm Vollmond aber getoppt wird das alles noch vom Sax. Schmelz! Das Zwiegespräch zwischen Trompete und Sax ist ganz wunderbar und dann – hach! – gibt das Piano auch noch seinen süßen Kommentar dazu. Was ist das für ein Tick-Tack am Ende? Eine Uhr? Ganz großes Kino mit wenigen Mitteln!
Track #07
Let‘s get down, baby! Erdig groovender bluesiger Jazz mit B3 und cooler, manchmal etwas bissiger Gitarre. Sicher nicht Smith, auch nicht Burrell, das wäre Dir altem Jazzfuchs ja zu einfach, und der Saxofonist ist auch nicht Turrentine, klingt auch etwas zu herb dafür. Die drums sind super schlicht aber effizient. Auch hier hört man wieder Jahrzehnte Tradition raus, Gospel, Blues, Soul. Und das ist auch mehr chitlin circuit als Jazzclub.
Track #08
Das klingt gleich ein ganzes Stück subtiler, fängt verhalten und geheinmisvoll an, die Bläser heben sich heraus. Kein fanfarenartiges Thema, kein durchgehender beat, subtile breaks, sorgfältige, sich langsam auf- und abbauende Dramaturgie, in der selbst das Basssolo einen spannenden Moment erzeugt. Die Soli wirken fast wie verschiedene Szenen einer Handlung, die Instrumentalisten sind die Schauspieler in verschiedenen Rollen. Vielleicht etwas weit her geholt der Vergleich? Aber als Gedankenmodell vielleicht ganz brauchbar.
Track #09
Da ist es ja, das fanfarenartige Thema! Wow, wie ich diese dissonanten Akkorde der Gitarre darin liebe! Die haben Biss! Die gesamte erste Minute ist toll durcharrangiert und spannend aufgebaut, dann wird alles zurückgefahren, die Bläser sind offnbar für einen Moment nicht orientiert und dann spielt der Gitarrist ein zurückhaltendes Solo, nur vom Bass begleitet, dann wieder alle anderen rein. Auch das ist sehr spannend. Hier gibt es also auch einen deutlich vom Schema Thema-Solo-Solo etc. blabla abweichenden Ablauf, der die Sache für mich interessant macht. Nach hinten wird es leider etwas konventioneller, vorhersehbarer und damit weniger spannend. Davon lasse ich mir den Spaß aber nicht verderben.
Track #10
Scharfer und rasanter Einstieg mit messerscharfen hi hats, markantes Bläserthema. Das Sax ist super präsent, rhythm section sehr tightly knit, der Bassist ist super (auch gut aufgenommen!), die Trompete ist okay, wahrscheinlich sogar gut, aber die hätte es, wenn‘s nach mir ginge, gar nicht gebraucht. Ah, doch, sie ist als Zwischenstück dramaturgisch wertvoll, bevor es wieder zurück zum Sax geht. Die drum & bass Soli sind erfrischend kurz und knackig, eigentlich nur breaks. Ich mag das in seiner kompakten, direkten und „kein Ton-zuviel“ Art sehr!
Track #11
Ooh baby, ich hab den Blues, bzw. der Blues hat mich! Aber sehr fein und blumig vom Piano gespielt, auch mit Drama und ein wenig Akrobatik, während bass & drums völlig stoisch und schleppend den beat halten. Wieder ganz viel gute alte Zeit. Da kann man in diesem Fall aber auch nichts mehr dran verbessern. Klassizistisch, und auch sicher nicht juke joint oder blues club in Chicago sondern eher NYC und/oder sogar Konzertsaal.
Track #12
Wenn ich nicht wüsste, dass dieser BFT das Thema Hard Bop hat, würde ich sagen, dass das hier Cool Jazz streift. So leicht und federnd kommt das Sax hier daher, und im Unterschied zu anderen Stücken hier im Test kann ich kaum einen Gospel- oder Blues-Bezug erkennen. Steht damit auch sehr im Kontrast zum vorhergehenden Track #11. Ich könnte jetzt auch nicht mal auf Anhieb das zugrunde liegende Thema benennen, dazu fließt das zu frei daher. Hübsch. Funktioniert für mich mehr als fließende Improvisation als als prägnante Komposition. Der Ton des Saxofonisten ist sehr schön, irgendwo zwischen Desmond und einem eher bluesigen Kollegen.
Track#13
Das geht noch viel weiter in Richtung Kammerjazz. Einsame Trompete, eigentlich ein Trompetensolo mit sehr zurückhaltender Begleitung, die nur ausnahmsweise mal etwas anzieht und die Spannung etwas erhöht. Klar ist der Trompeter ein Könner! Kann mich auf Anhieb nicht so mitreißen, vielleicht müsste ich das öfter hören. Ist aber auch sehr auf das Spiel des einen Solisten fokußiert.
Track#14
Arriba! Hier haben wir was Afro-Kubanisches, aber vermutlich ohne Afro-Cubans. Keine Congas, Bongos, Timbales oder Clavé, insgesamt etwas zurückhaltend, eher warm als heiß. Eine cultural appropriation von Leuten, die niemals Kuba gesehen haben, vermute ich. Aber das sagt nichts über die Qualität der Musik aus. Und natürlich reißt das rhythmisch mit und hat auch einen schönen satten Klangreichtum. Die Posaune, das Bariton-Sax, hier ungewöhnlich und orginell. Das höre ich sowieso gerne und damit bin ich auch gleich positiv voreingenommen. Steht ganz schön im Kontrast zu #13.
Track#15
Nochmal chitlin circuit? Aber etwas freier, weniger stark an Blues und Gospel orientiert. Diese Leute haben auch Bebop gehört und verarbeiten das in ihrem Idiom. Ein bisschen Instrumetalakrobatik ist hier auch mit dabei. Das Thema scheint mir nur ein Anlass zu sein, um mal die Sau rauszulassen, was bei ca. 2:00 ja auch ordentlich der Fall ist. Das ist dann ein Rausch.
Track#16
Da sind wir wieder down home. Einfaches Thema, call & response, groove, blues, gospel, alles da. Eine solide Sache, nicht herausragend aber gute bewährte Hausmannskost, auf die man immer wieder gern zurückkommt.
Bonus Tracks. Nachspielzeit. Nur kurz.
Track#17
Ellingtons Solitude. Swing.
Track#18
Klingt wie Exotica. Querflöte. Selten im Jazz, erst recht im Hard Bop.
Track#19
Hossa, da schmettern die Bläser! Auch Swing. Aber die Band hat auch Bop gehört.
Ein für mich spannend und angenehm zu hörender Mix. Danke dafür! Höhepunkte sind für mich #03, #06, #10 und Nummer #14. Ich glaube, daran reizt mich jeweils die Prägnanz, die knappe Schärfe und der individuelle Charakter, diese Stücke haben alle irgendeine ganz eigene Note, mehr oder weniger stark ausgeprägt.
Erkannt habe ich außer Ellingtons Solitude kein einziges Stück und auch keinen einzigen Musiker.
Was @gypsy-tail-wind mir erklären muss: Wo liegt bei all diesen Stücken der programmmatische gemeinsame Bezugspunkt „Hard Bop“? Ich höre da eine etwas irritierende Unschärfe, die ich nicht fokußieren kann. Was aber den Genuss keineswegs trübt.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)