Antwort auf: blindfoldtest #28 – gypsy tail wind

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vorgarten

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#1
toll ausgewählte eröffnung. funktioniert super, ohne dass da individuell jemand besonders auffiele. das thema holt aus dem orientalistischen teil mit den punktierten bassakzenten immer wieder schwung, um in uptempo swing umzuschlagen, aber es verzögert sich alles so reizvoll, bis es endlich zum tenorsax-solo kommt. das ist dann ok (schöner ton, viel gefühl, aber weitestgehend abgerufene standardideen), wird etwas unsubtil vom klavier begleitet, aber der aufs ganze gehende drummer setzt den lange vorbereiteten höhepunkt (mit stoischer techno-hi-hat und nervöser bassdrum).
scheint mir ziemlich alt zu sein (anfang der 50er), digitales vinyl einer nicht idealen aufnahme, vielleicht sogar live, was aber alles nicht negativ auffällt, da man alles hört und die energie sich überträgt. kein schnickschnack, keine attitüde, diese musik sitzt und schwitzt. glaube nicht, dass ich da jemanden kenne, allenfalls beim drummer klingelt was, kann ich mir aber auch einbilden.

#2
auf einer dezent unterstützenden bläserwolke fließendes altsax. nach dem thema blues-schema, das blaunötige klavier setzt jetzt die atmosphäre, während die bläser schön im hintergrund anwesend bleiben. ist nicht ganz so mein ding, weil das schema mich dann doch sehr wenig interessiert. der trompeter setzt sehr deutliche lee-morgan-signale (würde mich da fast festlegen, aber um diese zeit war der ja so sehr role model, dass bestimmt viele einen lee-morgan-stil hatten) und sich mit dem strahlenden ton deutlich von der lässigen schwere des altsaxes ab. toller soloeinstieg des klaviers, danach macht er aber im rahmen nur noch alles richtig. das tenorsax versucht sich anschließend als showstehler, das ist gleichzeitig am vernuschelndsten und am virtuosesten. posaune schält sich schön aus dem bläsersatzanschub heraus, bariton darf dann auch ton zelebrieren. eine klassische nummernrevue, bei der doch jeder andere akzente setzt. bass und schlagzeug dürfen auch noch. das thema ist schön arrangiert, gar nicht spektakulär, aber es macht sofort recht glücklich.

#3
auch schön. klaviertrio mit einem toll synkopierten thema. bass klingt in seiner trockenheit sehr nach chambers. das klaviersolo ist nichts anderes als meisterhaft. es wird zu keinem punkt langweilig, weil ihm wirklich nie die ideen ausgehen. jedesmal, wenn man denkt, es kommt ein abschluss, geht er in eine neue verzierung über und nimmt wieder anlauf für die nächste variation. rhythmisch ist das hochgradig flexibel und insgesamt so dicht, dass der schlagzeuger sich komplett aussuchen kann, wo er einen akzent setzt, er trifft immer was. abgründe höre ich hier nicht, aber eine mit leben gefüllte form. keine ahnung, wer das sein könnte, aber da gibt es auf jeden fall wurzeln in älteren stilen, nicht nur beim pianisten.

#4
ziemlich drastische veränderung im sound. hier ist der tontechniker mitglied der band. das supercoole, dabei bluesige, tenor spielt eine hipp vorwärtsschreitende pink-panther-melodie, die dann aber mit bläsereinsatz fast zum funeral march wird (mit den typisch ambivalenten fröhlichen-feierlichen hüpfern). das tenorsolo behält die ernsthaftigkeit bei, die hipness hat etwas sehr körperliches, da kann sich jemand gut bewegen. ganz toll finde ich hier die klavierbegleitung, die im festen rahmen ganz viel öffnungen anbietet. dieses quartet würde mir fast schon reichen, aber der auf einem ton hängende bass kündigt etwas schwereres an (posaune oder french horn?). das solo ist viel ungelenker, auch der pianist gibt sich weniger mühe, um danach selbst nochmal aufzutrumpfen. aber es sind auch hier nur andeutungen, er mag nichts aufbrechen oder woanders hin führen. die trompete hält sich enger am thema, lässt lücken, arbeitet suchend mit dem material, traut sich etwas, hat persönlichkeit. das thema kommt genauso wie am anfang, was ok ist, denn man möchte diese entwicklung zur parade gerne nochmal hören – es hat trotzdem was von stillstand, denn der ganze individuelle aufwand hat am ende nichts verändert.

#5
hier müsste man wohl die abgrenzung vom bebop erklären. das schlagzeug wirft einen motor an, altsax und trompete werfen sich kürzel und füllungen zu, dann verschiebt sich erstmal was zu dem verhallten klavier (live-aufnahme?), das die herausforderung des tempos ziemlich sportlich nimmt. trompeter kommt mir bekannt vor, oder sie wird sehr im stil der zeit gespielt. noch technischer erscheint mir das altsax. klavierbegleitung bräuchte ich nicht, ist ja alles dicht genug und das akkordschema hat man ja auch auf anhieb verstanden. schlagzeug arbeitet gekonnt mit dem eindruck unabhängiger einzelteile, aber das ganze genügt sich doch sehr in seiner sketchhaftigkeit. vielleicht das erste stück hier, das mich nicht so beeindruckt, das mir zu generisch daherkommt.

#6
gerade denke ich, dass ich jetzt mal eine ballade gebrauchen könnte, da kommt sie auch schon. aber was für eine? das operettenhafte klavierzwischenspiel lässt mich an eine leihgabe aus hollywood denken, dazwischen schwebt eine etwas kitschige trompete und ein aufgeregt schluchzendes altsax auf pedalverstärkten vibrafonwellen. der bass klingt elektrisch, das liegt aber wohl am digitalen aufbrezeln der analogen quelle. die sentimentalität (emotionalität?) läuft ein bisschen an mir vorbei, aber das stück ist reizvoll schräg zusammengebaut, bis hin zum geklapper am ende.

#7
nächstes genre. erstmal viel sympathie für den sound, den orgelbass, den schönen walzer-swing, die dynamischen instabilen hammond-akkorde. gitarre macht einen guten job, fast nur single-notes, rhtyhmisch akzentuiertes skalen-auf-und-ab. tenorsax schafft es, nicht als extra zu wirken. aber dann kommt das orgelsolo, und das ist dann wieder was, woraus man ganz viel lernen kann: erstmal nur in der mittleren frequenz bleiben, spannung aufbauen zwischen gehaltenen und akzentuierten tönen, den bass zum rock-artigen ostinato werden lassen, mit wiederholungen die 1 verlieren, für bewegung sorgen, dann den hammond-effekt nummer eins einsetzen: sprung in die hohen lagen (und die gitarre verschluckt sich gespielt vor schreck). dramaturgie aus dem lehrbuch, aber mit einem genauen gespür für jede einzelne farbe seines instruments.

#8
paukenwirbel, träger groove, schöner aufbau des themas, tänzerische latin-grundlage (eine art rumba, wenn ich mich nicht irre), mit toll verzahnten bläsern und einer bass-klavier-verschaltung, der beweglichste teil bleibt tollerweise das schlagzeug, das dazu einen schon sehr sophisticateten zugang hat (hier sind wir eher ende 50er, anfang 60er, oder?). könnte blakey sein, jedenfalls finde ich den bei sowas schon früh stilprägend. es gibt aber auch noch einen c-teil, den ein verspieltes klavier dominiert. letzteres darf auch solieren, auf ziemlich eigenwillige, fast schon arbeitsverweigernde weise. bass-solo, neue farben vom schlagzeug. alles arbeitet eher auf atmosphäre hin, weniger funktional richtung solo-revue. weiß nicht, ob ich das klavier mag, hat aber was. schönes stück.

#9
das ist wieder swaggy hipstermusik. komischerweise habe ich vom ersten ton an das gefühl: das kommt nicht aus den usa. schwer zu beschrieben, warum – es gibt viele ungewöhnliche farben (trompete und baritonsax, dann gitarre und bariton-sax unisono, generisches blues-klavier, eigentlich ein bigband-drummer, dann kommt aber erstmal nur gitarre und bass zum einsatz und so weiter), im rhythmus bleibt es aber ziemlich starr. gitarre ist recht modern, hat sich den status quo draufgeschafft und sucht jetzt nach erweiterungen. muss da an jemanden wie szabo denken, oder coryell, aber vielleicht sind das eher franzosen oder polen… das solo ist eigentlich gar nicht so spannend, es ist eher der ehrgeiz in der begleitung, der mir auffällt. bin mir unschlüssig: entweder ist das supergut abgehangener mainstream oder als eine art von jazz angeeignet, an die man von woanders her gerne anknüpfen möchte.

#10
weiter geht es mit dem zug. und der hat ordentlich dampf im kessel. schöne helle, klare aufnahme. könnte durch die westküste fahren. ganz toller tenorsaxofonist, der das mit einem wahnsinns selbstbewusstsein erstmal an sich reißt. kein energieeinbruch weit und breit. da die aufnahme den bass so präsent macht, bekommt alles einen schönen druck. trompeter knickt nicht ein, hetzt aber eher hinterher, als dass er irgendwas vor sich hertreibt. jetzt kommen schlagzeug-fours, die ich nicht so zwingend finde. sehr schade hier, dass der pianist nicht zum solo kommt, dessen subtile, sparsame gesetzte begleitung ich eine qualität für sich finde. neben dem abgefahrenden thema natürlich, das sie bestimmt lange üben mussten.

#11
langsamer blues, piano trio. ganz großes ausrollen. volle aufmerksamkeit auf den pianisten, der sich hier nicht lumpen lässt. keine falsche zurückhaltung. in dieser kategorie fällt mir eigentlich nur oscar peterson ein. wieder so ein fall, wo man mit „authentizität“ nicht weiterkommt – das ist abgerufenes effektwissen, das sich über einen langen zeitraum entwickelt hat. es funktioniert alles blendend, man hört ihm gebannt zu wie einem geschichtenerzähler, dessen material man in- und auswendig kennt, dessen effekte sich aber nie abnutzen. die form ist genau dafür da und sie wird hier so gefüllt, dass alles stimmt.

#12
schöner übergang. verminderte klavierakkorde, die erstmal lücken setzen, erwartungen schüren. dann kommt ein angefeuchtetes tenorsax ins spiel und spielt in abstrakten kürzeln um autumn leaves herum. auch hier denke ich wieder: europa. sie wollen es nicht so wie immer machen, sondern mal anders. sehr schön, wie das klavier in die lücken spielt, aber trotzdem scharfe akzente setzt. und wenn es losgelassen wird, dann liefert es auch. finde ich fast origineller als das sax, aber es verhakt sich schon sehr präzise in taktvorgaben und notenwerten. ein akademischer musiker, scheint mir. spaß macht mir aber der individualismus-abgleich zwischen den solisten, die sich hier spürbar herausfordern und inspirieren.

#13
dass das hier mein liebling ist, habe ich ja schon angedeutet. eine ballade, wie sie sein muss – da wird ein atmosphäre gesetzt, dann öffnet sich der raum (hier tatsächlich auch in der aufnahme) und das solo steigt mit jedem chorus in eine neue höhe, als hätte es angst, dass der moment endet (man denkt, es ist alles gesagt, aber dann greift der drummer zu den sticks und dann geht es eigentlich erst richtig los). wir hören hier ein flügelhorn und keine trompete, oder? ich finde es unfassbar, wie hier der ton moduliert wird, ohne in die effektkiste zu greifen, das stück wird eher geatmet als gespielt, aber auch die melodieführung ist schnörkellos und völlig frei in ihren ideen. der spratzer in der coda ist der einzige (ironische?) angeber-moment, zu dem die band dann aber einen kleinen modernistischen twist anschließt. bis äußerst gespannt, wer das sein könnte – ich kenne nicht so viele flügelhornisten im hardbop, thad jones vielleicht, aber das hier ist bestimmt jemand ganz anderes, vielleicht sogar mir völlig unbekanntes. wunderbar.

#14
back to afro-cuba, aber nur so halb. „manteca“ ist von 1947, lese ich gerade. hier kommt eine spanischgefärbte erweiterung zum einsatz und dann wird es eigentlich zu etwas völlig anderem. ganz viel generisches material, um den starsolisten eine farbige grundlage für die arbeit zu geben. der tenorsaxer hangelt sich ein bisschen am akkordschema entlang, bringt aber ein schönes dynamisches wechselspiel zum einsatz. es kommt eine tonschöne, etwas ungelenke posaune ins spiel (nicht moncur, oder?), dann ein baritonsax. viele dunkle farben, sowieso. die variation von hängenbleiben und losswingen finde ich auf dauer langweilig, verbinde ich aber auch mit vielen sachen aus den 50ern und frühen 60ern. klavier hat schwierigkeiten, dann kommt aber auch schon das thema wieder. den dunklen sound mag ich, aber sonst ist das sehr abgerufener standard.

#15
der rausschmeißer macht großen spaß. blubbernder orgelbass, eine gitarre, die das thema nicht geübt hat, aber sofort zum aufgekratzten uptempo-solo ausholt, aber von der orgel gleich wieder weggefegt wird. meine güte, geht das ab. die aufnahmetechnik zieht sich zusammen und sieht rot. wahnsinn, einfach diesen einzelnen ton festzuhalten, und dissonant alles andere drum herum zu schichten (schöne, agile drums dabei). fetz, krach, polter, aus.

#16 (bonus #1)
vom rotlicht in die kirche. gospel mit ruf und antwort. ich kenne das, aber komme nicht drauf. das erste, worauf ich mich festlegen würde, wäre billy higgins an den drums. beim altsax bin ich mir tatsächlich nicht sicher, auch wenn ich ihn sehr toll finde. noch besser aber den pianisten, der in den vorgaben recht starr bleibt, darin aber ganz überraschende ideen anbringt. alles eine geschmacksfrage, ich finde es wunderbar. fehlte hier in diesem bft tatsächlich noch, solch ein stück.

#17 (bonus #2)
großorchestrale live-version von „solitude“, für ein posaunensolo eingerichtet. ganz schön fett und selbstgenügsam. ich weiß nicht so recht, wie ich das hören soll. scheint mir fast begraben unter 1000 eingeübten show-gesten, die keinen bezug mehr zur substanz haben. warum müssen die einsätze so stark ins fortissimo gehen, was bringt das in einem posaunensolo, das am liebsten wohl ungestört seine eingeübten tonabfolgen dahinstellen will. einsamkeit zu erzählen, in einem solch vollgestellten raum, von da aus in ein bestimmt nicht kleines publikum geschmettert, scheint mir nicht so ganz ohne widersprüche zu sein.

#18 (bonus #3)
oh, querflöte – sowas von jemand anderem als von mir in einem bft präsentiert, überrascht mich ja immer ;-) könnte in deinem fall natürlich auch lateef sein, dann wäre es wohl ok. der song ist auf jeden fall „delilah“ (nachdem ich lange dachte, es sei „taboo“). frage ist jetzt natürlich, ob der flötist auf tenor wechselt oder das zwei musiker sind. schönes energetisches solo jedenfalls, das sich zwischendurch natürlich schon in etwas dehnt und streckt, für das hardbop-formeln bald zu eng werden. bisschen doofer einstieg der gitarre (im ganzen bft – im ganzen hardbop? – keine gitarre ohne tastenintrument, übrigens, ich versteh’s einfach nicht…), dann aber sehr schöne akkordische, weiche weiterentwicklung. dezent modernistisches, vor allem aber virtuoses klaviersolo, das seinen rahmen auch schon als sprengbar anspielt. tolle rückführung ins thema (und da merkt man auch – flöte und sax werden von unterschiedlichen leuten gespielt). ich glaube ja, dass man „delilah“ eher langsam spielen sollte, und frage mich, welche farbe das stück jetzt ins den bft einbringt, die bisher gefehlt hätte?

#19 (bonus #4)
hier verstehe ich es sofort. wie man eine big band so messerscharf arrangieren und auf zack bringen kann, ringt mir große bewunderung ab. ein stück aus wolken und nadelspitzen. hier geht’s nicht um „solitude“, soviel ist klar. das ist eine äußerst kommunikative angelegenheit, von einem fantastischen drummer zusammen gehalten. würde jetzt auf mel lewis tippen, kenne mich aber natürlich nicht aus. über die soli würde ich jetzt eher weniger reden. ich wäre da nur gerne in der ersten reihe gewesen – mit nichts, um meine ohren zu schützen. toll.

soviel erstmal – vielen dank für diese kompakte lehrstunde in variationsreich und lebhaft ausgefüllter form, ich bin sehr gespannt, was die anderen schon geschrieben haben und freue mich auf die diskussion!

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