Antwort auf: 2018: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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friedrich

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Von der verbindenen Kraft von Musik und der Signalwirkung eines T-Shirts

Ich hatte mir beim Auftritt des Sun Ra Arkestras im Festsaal Kreuzberg ein Sun Ra-T-Shirt gekauft. Aber erst letzte Woche trug ich es zum ersten mal. Donnerstag hatte ich einen anstrengenden Arbeitstag, mit einer Besprechung in der ernüchternden Welt von Soll-und-Haben. Am Freitag dachte ich mir, als Gegengift könnte vielleicht ein Sun Ra-T-Shirt wirksam sein.

Kolleginnen und Kollegen reagierten irritiert und amüsiert bis strinrunzelnd. Die sind von mir aber sowieso schon einiges gewohnt. Ich glaube, keiner von ihnen wusste, wer Sun Ra ist.

Freitagabend bin ich wie immer zum Boule spielen gegangen. Bei der Einschreibung zum Turnier werde ich nach meinem Namen gefragt. Ein Bursche kichert: „Aber das sieht man doch: Das ist Sun Ra!“ Ich lächle etwas bemüht feundlich zurück und nenne meinen wirklichen Namen. Später auf der Bahn spricht mich ein anderer Bursche, etwa mein Alter, begeistert an.

„Sun Ra! Den habe ich mehrmals im Quasimodo und im Quartier Latin gesehen.“
„Wirklich? Als er noch lebte?“
„Na klar! Habe auch viele Platten von ihm. Hier, sogar auf meinem Handy.“
Holt sein Handy raus, scrollt durch seine Musiksammlung. Coltrane, Sanders, Archie Shepp und endlich Sun Ra.
„The Heliocentric World Of Sun Ra: Das ist eine Platte!“
Ich ziehe anerkennend die Augenbrauen hoch.

Am Samstag vormittag stehe ich im Frauen-Bio-Laden mit meinem Gemüse an der Kasse.
Ein Bursche im Rentenalter schaut aus einiger Entfernung an mir hoch und runter, lächelt, zeigt mit der einen Hand auf mein T-Shirt und streckt den Daumen der anderen Hand in die Höhe. Ich gehe auf ihn zu und spreche ihn an.

„Warst Du vor zwei Wochen auch beim Konzert?“
„Ja, und ich bin immer noch ganz glücklich!“
„Habe mich 10 Jahre jünger gefühlt.“
„Da waren aber auch lauter Menschen, die waren halb so alt wie meine Tochter“
„Und man sah nur noch glückliche Gesichter.“

Wir klopfen uns gegenseitig auf die Schultern, schütteln einander die Hände und verabschieden uns herzlich voneinander. Ich trage meine Einkäufe zufrieden nach hause.

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)