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alice & john, pt.1 (1964-66)
I really was quite conventional. I wasn’t innovative or exploratory. I saw music as conforming to the basic chord progressions that were being played by so many musicians around the country … I do not dislike it [the old style] but I prefer avant-garde music because it isn’t as restrictive … If you’re set in this 12-bar pattern, you don’t change from that; you stay within that confinement. For people with limited ability, maybe it’s a safety measure to play in that context. But for innovative people, that’s quite limiting.
(alice coltrane in einem interview 1982)
im januar 1962 geht alice mcleod zum ersten mal in detroit zu einem auftritt von john coltrane. das erste persönliche aufeinanderstreffen ergibt sich ein jahr später, backstage im musker*innenraum des birdland, als das terry-gibbs-quartett im sommer 1963 für das john-coltrane-quartett eröffnet. eine showband, die folkloristische themen in boppige swingnummern verpackt, trifft auf eine suchende formation, die gerade dabei ist, die mainstream gewordenen modalen formeln explorativ zu erweitern. danach ist alice mit gibbs auf tour und john kommt immer wieder vorbei – diesmal ist er der gast im publikum und hört ihr zu. im juli 1964 kündigt alice überraschend vor einem london-gig des gibbs-quartetts und reist mit john nach schweden. die heirat erfolgt 1965 im mexikanischen juarez. alices tochter michelle (miki), deren vater kenny hagood ist, lebt mit ihnen zusammen.
während sich john coltranes musik in kurzer zeit dramatisch verändert (während ihrer noch jungen beziehung entstehen u.a. die aufnahmen zu A LOVE SUPREME, ASCENSION, OM, KULU SE MAMA und MEDITATIONS), ist alice hausfrau und mutter. john jr. wird am 8. august 1964 geboren, ravi am 6. august 1965, miki ist anfang 1965 gerade mal 4 jahre alt. alice beschreibt ihren ehemann als unterstützend und als häuslichen familienmenschen, so lange er nicht auf tour ist. beide interessieren sich für nicht-westliche religionen und philosphien und beginnen eine tägliche mediationspraxis.
die ersten gemeinsamen aufnahmen erfolgen erst im februar 1966. darauf wird zum ersten mal hörbar, wie dramatisch sich alices spiel stilistisch verändert hat. die detroiter bebop-pianistin mit erfahrungen im religiös verankerten ekstatischen spiel und einer deutlichen affinität zur bluesbasierten pentatonischen musiksprache hat das alles in das freie, orgelpunktbasierte und damals durchaus umstrittene spiel ihres ehemanns integriert, bewegt sich plötzlich jenseits von taktvorgaben und harmonischen fixierungen, baut dissonanzen in ihr spiel ein und nutzt das gesamte tonspektrum ihres instruments. wobei zu diesem zeitpunkt noch nicht die rede davon ist, dass sie als pianistin fest in der band ihres mannes einsteigt. das passiert erst vor dem engagement im village vanguard ende mai. es folgen die auftritte in newport und die japan-tournee (beides im juli), im november dann der kürzlich aufgetauchte auftritt an der temple university in philadelphia.
in der ersten session entstehen vier stücke, die alice später nach johns tod auf zwei alben verteilen wird, COSMIC MUSIC und INFINITY, wobei „leo“ und „peace on earth“ auf letzterem mit overdubs drastisch verändert wurden (vor allem, was das originale klavierspiel von alice angeht). „manifestation“ und „reverend king“ von COSMIC MUSIC dokumentieren das neue quartett (bzw. mit percussionisten appleton in diesem fall ein quintett) in reinform.
über alices solo auf dem opener habe ich drüben im john-thread geschrieben:
am 2. februar 1966 nimmt das coltrane sextett (coltrane-coltrane-sanders-garrison-ali-appleton) in san francisco dieses stück auf, das später, mit einem „ugly edit“ auf COSMIC MUSIC landen wird (und wahrscheinlich nur ein ausschnitt aus einer langen improvisation über „leo“ ist).
mich interessiert das gerade, weil es die erste aufnahme von alice coltrane in der band ihres mannes ist – sie ist nach ihm und sanders (auf einer piccoloflöte) ab 5’02 mit einem etwa zweieinhalbminütigem solo zu hören, das ich sehr interessant finde. meine alice-rezeption ist natürlich von einer großen sympathie gefärbt, auch wenn ich behaupten würde, dass mein bild von ihr schon etwas komplexer ist als das der später harfespielenden spiritual-jazz-ikone, die in der band ihres mannes noch recht funktional eingesetzt wurde, jedenfalls beschäftigen sich die wenigsten kommentare, die man über ihr spiel bei john so lesen kann, überhaupt mit dem, was sie da eigentlich macht. speziell über dieses solo ist kaum etwas zu lesen (in den besprechungen von COSMIC MUSIC z.b.), gypsy beschreibt es in seinem chronologischen coltrane-überblick als „eher ereignisarm“.
tatsächlich höre ich gleich mehrere ereignisse darin, vom ereignis einer neuen stimme in dieser band abgesehen. nachdem ich ihre begleitung bis zum solobeginn kaum wahrgenommen habe (sie ist im mix nicht sehr präsent, macht aber auch keine wesentlichen angebote an die anderen solisten), ändert sich ab 5’02 sofort der charakter des stücks. schon am ende von sanders‘ solo, das komplett alle angebote seiner mitmusiker*innen ignoriert, bereitet sie das vor: ein eher hymnisch angelegtes zwei-akkord-schema, das wie eine kleine hommage an tyner wirkt, das mit dem soloeinstieg an die oberfläche drängt und das sie nach ein paar interessanten variation zunehmend in die abstraktion und mehrdeutigkeit überführt. was ganz großartig dabei ist, ist, wie garrison diese bewegung aufgreift, unfassbar schnell und flexibel. die später charismatischen eindunkelnden ambivalenzen in alices rechte-hand-läufen entwickeln sich hier zögerlich (nicht als masche oder rezept), dazwischen schlägt sie motivisch immer wieder eine zweiton-figur vor, die sie mit der linken hand rhythmisch konturiert und damit die virtuosen abwärtslinien rahmt. ihr zugang ist also sowohl rhythmisch wie harmonisch wie auch motivisch, was vielleicht weniger durchdacht als vielmehr suchend erscheint, aber dennoch eine menge unternimmt in zweieinhalb minuten. das ist alles nicht sonderlich spektakulär, aber wirkt auf mich wie eine kleine erzählung über den charakterwechsel der coltrane-musik selbst, der von der swingenden, hymnischen beseeltheit der tyner/jones-begleitung in etwas sehr viel unbestimmteres, voraussetzungsloseres führt.
tatsächlich hebt auch franya berkman dieses solo in ihrer alice-coltrane-studie prominent hervor:
Her preference for perfect fourths in the left hand and the related pentatonic vocabulary in the right is unquestionably the inheritance of McCoy Tyner, who established the practice of using quartal harmonies in Coltrane’s Classic Quintet. But Alice uses these fourth structures in a personal, mercurial manner; her constantly shifting left hand adds tremendous contrapuntal interest to her solos. This unpredictable quality distinguishes her playing from that of Tyner, who usually interjects rhythms in more regular time intervals.
die rhythmische verunklarung und re-etablierung bestimme ihr spiel. genauso, was auf den langen live-improvisationen zu hören ist, funktioniert ihr spiel mit dem thematischen material, zu dessen modalen angeboten sie immer wieder zurückkehrt, um dann erneut zu anderen orgelpunkten zu wechseln oder überhaupt kein harmonisches zentrum mehr zu installieren. spätestens in den japan-aufnahmen wird deutlich, wie sich garrison und ali sich darauf einstellen, indem sie jedesmal in ihrer rückkehr zum ausgangspunkt den druck herausnehmen und leiser werden, um ihre nächste exkursion wieder zu eigenen variationen zu nutzen (ganz ähnlich funktioniert das spiel von sanders in diesen aufnahmen, nachdem er im vanguard noch zum spiel john coltranes schroffe antithesen aufbaut, die das originalmaterial der themen und kompositionen wesentlich ignorieren).
das konzept des john-coltrane-quartetts ist live ziemlich eindeutig: die hymnischen originale („afro blue“, „my favorite things“, die balladesken „peace on earth“, „crescent“, „welcome“, „naima“, das brutalistische kürzelthema von „leo“) sind ankerpunkte für bis zu 20 minuten langen soli, in die die musiker quasi alles hineinlegen können, was sie zu sagen haben. alice löst diese aufgabe zumeist in schwindlig machenden rasanten läufen der rechten hand, die von unvorhersehbaren akkorden der linken punktiert werden, in bewegungen, die zirkulär auf das thema zurückkommen, sich insgesamt aber nicht dramatisch steigern. ein sehr schönes beispiel ist das zweite „peace on earth“ aus japan, in dem diese bewegung durchgängig spannend bleibt – in anderen soli mäandern ihre ausflüge weniger abwechslungsreich, was aber sanders und john (selten!) phasenweise genauso passiert, da niemand mehr das konzept der konsistenz verfolgt.
wie man musikalische entwicklung, tatsächliche praxis, den politischen zeitbezug und die spirituelle orientierung des coltrane-ehepaars zusammendenken kann, hat berkman ziemlich schlüssig vorgeschlagen. die soziale mobilität der 1960er, die eine neue kultur der individuellen suche initiiert, die ablehnung der kolonialsystemstabilisierenden christlichen institutionen, die im zuge der unabhängigkeitsbewegungen infrage gestellt werden, die suche nach alternativen religiösen angeboten – verzahnt in der jazzentwicklung der individualistischen suche nach der eigenen stimme, der authentizität des ausdrucks, und der offenheit von modalen strukturen für außereuropäische klangfarben und stimmungen (s. coltrane ab 1961, „india“ usw.). john coltrane partizipiert an diesen entwicklungen spätestens seit A LOVE SUPREME in der guru-rolle, zunächst in form einer aktualisierung christlicher spiritualität, dann einer alternativen suche (sowohl richtung indien – musikalisch: ravi shankar – als auch nach westafrika – musikalisch: babatunje otatunji), als vertreter von etwas, das lewis porter mal „universal religion“ genannt hat; bei ihm spezifisch eine verbindung von zen, zoroastrianismus, den lehren von yogananda und krishnamurti und täglicher meditationspraxis, das alles von alice adaptiert, bevor sie zusammen sich musikalisch weiterentwickeln:
Mantra-like melodies, static harmonies, pentatonic improvisations, dynamic ensemble interactions, and increasing freedom from metric constraints came to signify both a religious attitude and a new ecstatic spiritual practice in its own right.
(Berkman)
für das bandkonzept und die einzelnen musiker hieß das:
First, music making is based on personal spiritual expression, and the artist should be fully committed to expressing an authentic self as a musician. Second, music making should be universal, erasing aesthetic boundaries and proscriptions about style. And third, such musical universality requires branching out: it is inclusive, pluralistic, and multicultural.
(ebd.)
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