Antwort auf: blindfoldtest #26 – wahr

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gypsy-tail-wind
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#1 – Das ist natürlich klar … toll, schon lange nicht mehr gehört. Auch ein schöner Song/Standard, der hier gespielt wird. Der Drummer war ja noch grün, aber sein Spiel passt in diesem Trio schon sehr gut – ist aber, finde ich, nicht halb so „emanzipiert“, wie gerne behauptet wird. Die Bälle gehen hier zwischen dem Bassisten und dem Pianisten hin und her, ein gleichwertiges Trio ist das noch bei weitem nicht und ich frage mich auch, ob es das im Format Klaviertrio überhaupt gibt oder jemals gab … das „Feel Trio“ von Cecil Taylor vielleicht? (Wenn ich fies drauf wäre, könnte ich ja sagen, das ist ein Duo – p/d – mit einem Statisten, so ist es nicht und William Parker gefällt mir dort auch recht gut, aber gleichberechtigt ist das natürlich auch nicht). Aber gut, was soll man hierzu sagen? Eine gute Mischung zwischen Raum geben und Melodien aufblühen lassen im Piano, ein feiner Sound … der Bass dann halt mit seiner „easy action“ – Saiten naher am Hals, weniger Kraft nötig, mehr Geschwindigkeit und weniger Klangvolumen möglich. Letzeres stört mich tatsächlich manchmal (und auch gerade hier) etwas, aber das ist dann schon Korinthenkackerei, denn das sind grossartige Aufnahmen. Das Stück ist sehr zurückhaltend, hat eine wunderbare Stimmung, fast Trance-artig, könnte auch noch eine halbe Stunde weitergehen!

#2 – Ein harter Bruch … hinter den Beckenschlägen und dem Sax, schält sich wieder ein Bass heraus – ist das hier Thema? Das Tenorsaxophon nähert sich allmählich Melodiefetzen an, streut dann ein paar slap tongue-Töne ein, überbläst, knurrt und schnurrt und schnattert, der Drummer (sind es zwei?) streicht ein Becken mit einem Bogen (oder einem Stick, geht ja auch) … nach zwei Minuten schält sich sowas wie ein freier Groove heraus – und ja, das sind zwei Drummer, denke ich. Das Sax finde ich nicht besonders beeindruckend, hat jetzt nicht die Menge an Ideen, findet keinen Faden – will das wohl aber auch gar nicht, das Fragmentarische schient hier Konzept … aber Moment, nach der Drei-Minuten-Marke fällt er in ein paar Ayler-Riffs, das Tempo zieht an, es gibt allerlei Standard-Licks in verfremdeter Fassung, dann wieder eine Art Gestotter … dann kommt ein Fischhorn … hat der Saxer bloss das Instrument gewechselt oder ist das ein zweiter – ich tippe auf denselben. Das Sopran gefällt mir sehr viel besser, hier legt der Saxer nun los, verliert sich dann aber fast etwas im Gegenteil. Das ist doch nur ein Drummer oder? Etwas seltsam im Stereo-Spread und ziemlich virtuos dann, im Gegensatz zum Bass, der mich nicht zu packen vermag. Dann wieder zurück zuM Tenor … irgendwie bleiben bei allen Verdichtungen und dem angedeuteten Interplay eine lange Reihe von Non Sequiturs. Beim ersten Hören im Zug gefiel mir die Nummer ein gutes Stück besser als jetzt, aber ich höre jetzt auch wirklich zu. Nochmal ein vertraut klingendes Riff gegen Ende – bzw. ab 8:07, das Ende kommt, aber so nah ist es noch nicht, ich warte jetzt einfach drauf, denn das überzeugt mich am Ende nicht, auch wenn es in der Anlage und im Sound schon ansprechend ist. Keine Ahnung übrigens, wen wir hier hören.

#3 – Und wieder ein Bass … hässlicher Sound, aber was er spielt, wäre an sich so übel nicht. Dann – Wham – der Einstieg ins Thema – „Africa“ von Coltrane, ja? Eine Art Sound-Zoo mit Sitar, Harfe und allerlei Effekten im Low-Fi-Gewand … eine aktuelle Hipster-Band, die im Kellerclub ein Tape gemacht hat? Der Drummer ist sehr öde, aber ich verstehe schon, was das hat bzw. dass das für viele Ohren was hat. Das gibt sich im Sixties-Gewand, ist aber wie #2 aus der Gegenwart, ja?
Das ist von hier, ja? Kannte ich nicht, interessante Idee gewiss … und es geht mir ähnlich wie mit #2: in der Anlage spricht mich das durchaus an, aber die Realisierung passt dann irgendwie nicht so richtig. Die Drums sind schwach und auch der Saxophonist, der am Ende loslegt, klingt „studiert“, angelernt“ … die Sitar ist aber ziemlich toll und es gibt auf jeden Fall einige Sympathiepunkte von mir!

#4 – Masala Radio? Ein Kauderwelsch-Intro mit Charme, das in einen Groove mit gesampleter Bassline führt … eine twangy E-Gitarre, dann wieder Rumpelbeats, Jazz für Fans von Cypress Hill und den Beastie Boys? (Aber ohne Groove Holmes und Robin Kenyatta …) – das ist eine Collage, schon ziemlich witzig, aber viel mehr als die drei Minuten würde ich das nicht hören wollen … aber das ist ja wahrs Mix und da passt das natürlich rein bzw. wird nicht anders erwartet.

#5 – Nahtlos geht es weiter – und hier meinte ich z.B., dass die zwei Tracks vom selben Album kommen könnten und dort schon so programmiert wurden. Aber das stimmt dann wohl nicht und leuchtet beim zweiten Hören auch ein, denn das hier ist von einer ganz anderen Ernsthaftigkeit, auch wenn es total locker daherkommt. Was für eine Sprache ist das? Eine Art globalisierter Brasil-Groove mit einer tollen Bassline drunter und einem hübschen Arrangement … ziemlich toll! Und ja, das ist Portugiesisch bzw. Brasilianisch oder? Für die Bassline und den geilen Sound der Produktion lege ich jedenfalls was drauf, gefällt mir, ziemlich irre aber geil (oder psycho pneumatico eben). Kann das zeitlich überhaupt nicht zuordnen, Siebziger, Achtziger? Schön, dass das nach drei Minuten nicht aufhört sondern immer bekloppter wird (und das Arrangement legt auch noch einen drauf).

#6 – Dann wieder eine Beruhigung. Ein Gitarren-Intro, für das Bill Frisell hätte Pate stehen können … oder ist er das? Die Bläser würden jedenfalls passen. Langsam kommt Schwung in die Bude, aber der Saxer bleibt irgendwo zwischen zurückhaltend cool und verschnörkelt à la Garbarek – das ist eine Art ECM-Kiste, aber doch keine … und wieder nicht mein Fall, passt dann aber nach #5 einmal mehr sehr gut. Dann wird wieder aufgeräumt, Gitarre und Rhythmusgruppe, Ostinato bis zum Umfallen … kann man machen, klar, etwas Minimal Music – und dann ein tanzendes Vibraphon drüber, das dann zum eigenen Loop weitermacht und weitere Minimal-Riffs stapelt … doch doch, das geht schon, muss ich aber auch nicht unbedingt weiterhören. Am Ende glöckelt es sich halt aus.

#7 – Und zurück in die Garage … abgekarteter Rock, eine „verträumte“ Trompete, ein paar Effekte und wieder ein paar einfache Riffs. Das passt alles zum Vorangegangenen, aber aus dieser Suite, die bei #3 beginnt, packt mich nur #5. Das ist mir zu klar angelegt, das einzige lebendige, atmende Element ist die Klarinette – und so gesehen ein schönes Manifest dafür, dass die Klarinette viel öfter gehört werden sollte, nicht erst hier und heute eigentlich, sondern überhaupt in all den Fassaden der Coolness, die sich seit den Achtzigern überall aufgebaut haben. Gefällt mir am Ende wohl etwas besser als #6. Die Trompetenschnörkel, die fast untergehen sind dann auch ein hübscher Touch, wenn bloss der Drummer etwas weniger penetrant wäre und etwas lockerer werden könnte (doch dann wär der schön-trockene Math-Groove wohl dahin … aber das wünschte ich mir ja gerade). Und klar, man kann auch einfach aufhören, ohne Glöcklein.

#8 – Das ist der nächste Track, den ich für ein Intro hielt, aber der Bruch zwischen diesem und dem folgenden Track ist zu hart, klar. Das ist eine Enten-Satire, die am Ende von einem Betonblock plattgemacht wird, der auf die Band fällt – Zeichentrickfilm. Gefällt.

#9 – Testosteron-Überschuss? Das ist mir nun definitiv viel zu abgekartet. In St. Johann beim Festival ging ich nach Hause, als Frank Gratkowski mit seiner Rock-Kapelle antrat … daran muss ich hier denken. Ist sicherlich unfair, aber mir kommt das völlig unkreativ rein, starr, steif … der DJ ändert daran auch nichts, und dass der Groove mich irgendwann doch noch so halbwegs mitnimmt auch nicht. Synthiejazz, der natürlich viel ernster ist, als er sich gibt (die tragen bei Auftritten bestimmt geblümte Hemden und ein paar von ihnen noch unpassende Strohüte und/oder Sonnenbrillen). Der Schluss dann eine Art ironische Brechung – der Automat übernimmt, aber dann geht die Batterie zu Ende.

#10 – Das ist jetzt der Baby-Po … Möchtegern-Spiritualjazz – ich war beim ersten Hören eigentlich fast sicher, dass das Kamasi Washington ist. Das Thema ist schön, klingt vertraut ohne dass ich es zuordnen kann (wo ich jetzt weiss, dass es nicht K.W. ist). Rhythmisch ist nicht uninteressant und das Fender Rhodes klingt halt immer gut, auch wenn das Was hier für mich ziemlich trivial wirkt. Und eben: der Saxer glatt und uninteressant wie ein Baby-Po. Aber gut, ich verstehe auch hier (wie bei K.W.) den Appeal, den das haben kann – klappt bei mir einfach absolut nicht. Man kann eben auch aufhören ohne aufzuhören … aber ich höre das dennoch nochmal in der vollen Länge, einfach um den Rhythmen zuzuhören, die ich auch beim zweiten Mal irgendwie interessant finde, auch wenn das als ganzes ziemlich krass abkackt, pardon.

#11 – Uff, geschafft – und zum Glück kann man nun wieder Atmen! Schön, wie das losgeht. Dann das Thema, Klarinette und Trompete – ist das ein Nate Wooley/Ken Vandermark-Ding hier? Oder Peter Evans? Die ganze Luft vom Anfang wird leider rasch aufgebraucht, die spielen alles voll, der Drummer bleibt aber ziemlich toll mit seinem geklöppelten Groove – und wie ich das tippe kündigt sich grad schon der Wechsel an, Ding-Ding-Ding-Ding und dann kommt Swing, aber nicht sogleich, das wäre ja viel zu plump. Postmoderner Jazz aus den 00ern oder 10ern, hervorragende Musiker bzw. Techniker ohne Frage, da müsste ich mehr hören, um ein Urteil zu wagen, so ganz mein Ding ist das hier auch nicht, aber seit #2 dann doch das erste Stück, das grundsätzlich wieder in eine Richtung geht, die mir liegt. Ach, und da ist er nun, der Swing, nach dem Drum-Interlude, das kein Solo ist. Die Trompete kann alles, bleibt aber dennoch irgendwie gut – die Klarinette klingt hier dagegen für meine Ohren etwas kalt. Doch sie ist ja jetzt weg, ein Saxophon da stattdessen. Ein Alt, Vandermark ist das also wohl nicht … ich habe Evans und Wooley schon live gehört und höre beide wohl noch öfter, aber beides sind keine Musiker, die mir je so richtig ans Herz wachsen werden, aber das passt schon ganz gut.

#12 – Und jetzt eine Diseuse, die sich an den englischen Sängerinnen der späten 60er orientiert (Julie Driscoll/Tippetts)? Das Piano ist süss, klingt fast dilettantisch … spielt sie selbst? Ohne Carla Bley und Annette Peacock gäbe es das hier wohl nicht. Ich habe keine Ahnung, wer das ist, aber die Stimme hat ein wunderbares Timbre und der Track hypnotisiert mich fast … das wird dann wohl die Entdeckung dieses BFTs, ich hoffe, da gibt es wenigstens ein ganzes Album? Total faszinierend! Am Ende vibriert noch irgendwas im Zimmer mit … ist das ein home recording?

#13 – Zurück in die Garage … was für ein Ding ist das, das diese penetranten aber tollen Riffs spielt? Eine Gitarre? Das Thema gehört dann ja auch der Trompete – schleicht sich dahinter noch mehr rein (Samples? Synthesizer-Klänge? Beides?), das ist wieder recht krass Low-Fi hier, aber entwickelt auch dank des Drummers einen ziemlichen Sog. Dann wechselt das Lick, es wird etwas süss, die Bossa-Craze lässt grüssen. Ach so … ist das der Herr, den ich gerade live hörte? Und damit wären wir dann zurück beim Brasil-Strang des Ganzen? Das Sax ist souverän, will sich aber nicht so richtig zum Ganzen fügen – in der Mitte gibt es ein paar Coltrane-Momente und der Faden ist weg, also Girlanden knüpfen und weiter machen und hoffen, dass wieder was passiert – das ist AACM-Schule, ja? Ach, und da ist ja schon ein Riff, mit dem man die Sache immerhin würdig beenden kann und den Boden wieder dem Leader überlassen, der weit weg vom Mikro etwas zu den synthetischen Klangwellen dazuspielt, kaum hörbar und auch sofort wieder verfremdet. Etwas bösartig könnte man sagen: die haben doch nur gewartet, bis der Saxer endlich durch ist, um wieder ihr Ding zu machen. Aber das spricht mich alles in allem doch ziemlich an, auch wenn dieser Track nicht wahnsinnig kohärent ist.

#14 – Was ist das, ein orientalisches/arabisches Doppelrohr-Ding? Klingt so ansatzlos als sei es eine Gitarre oder ein Synthesizer … und woher kommt die Stimme und was ruft sie? Ach, egal, einfach zuhören …

#15 – Am Ende folgerichtig nochmal Jazz, Coltrane-Nachfolge im Thema, hymnisch, zupackend … das kann nur einer sein, bzw. das war er, verdammt. Zuordnen kann ich das gerade nicht, aber das versuche ich auch nicht, ich höre einfach zu, wie sich hier ganz eigene Welten öffnen, ein Mählstrom, dem ich mich nicht entziehen kann.

Ein in sich stimmiger Mix, das finde ich auch beim zweiten Hören wieder. Wahnsinnig viel für mich ist nicht dabei, aber ich lese jetzt mal die Kommentare und kratze mich dann wohl wie üblich ein paar Male ratlos am Kopf. Vielen Dank!

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