Antwort auf: blindfoldtest #26 – wahr

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vorgarten

Registriert seit: 07.10.2007

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ich fang mal an. gestern morgen auf einer zugfahrt schon mal alles durchgehört, jetzt, auf der rückfahrt, protokolliere ich. ich kenne ein paar sachen, muss die aber zuhause nochmal genauer recherchieren. der schon angesprochene flow ist wirklich toll hier, mehrere übergänge sind ausgesprochen interessant, und was „baby-po“ angeht, bin ich auch ratlos (noch mehr, nach dem ich versucht habe, das zu googeln…)

bin sehr gespannt, was das im einzelnen für reiseetappen sind.

#1
das ist natürlich klar – wer da spielt, ort, tag und stück. der vielleicht erste höhepunkt, der sich nach KIND OF BLUE bei den dort beteiligten ergeben hat, danach der tragische verlust des bassisten, nachdem der leader hier sich eigentlich nicht mehr weiterentwickelt hat. und bevor knapp ein halbes jahr später der tenorsaxofonist der kind-of-blue-sessions am gleichen ort mit eric dolphy zusammen einen quantensprung macht (während der chef erstmal auf hohem niveau stagniert).

toll, welch eine öffentliche innere emigration das trio hier aus dem trauergesang der serena veranstaltet. der leader schiebt eigentlich nur ein paar akkorde hin und her, deutet ganz zart einen blues an, reißt sich einmal kurz zu einem wirklichen solospiel hin, überlässt dann aber dem bass das feld (für ein solo, dem mir vergleichsweise der kick fehlt, aber naja.) eine performance, die eine schönheit aus dem original herausarbeitet, sich quasi ereignen lässt, die in der luft schwebt.

warum das allerdings als opener gewählt wird, muss mir noch erklärt werden ;-)

#2
sprung in die gegenwart. auch ein interplay hier, das über lange sicht wohl vom trio aus #1 profitiert hat. wo das tenor hin will, weiß ich nicht, der bass macht eh sein eigenes ding und die drums legen langsam und immer beharrlicher zu. ich bleibe im verlauf etwas skeptisch, weil ich zwar schöne kommunikative details höre (wie das sax drumakzente aufgreift z.b.), ich aber nicht verstehe, warum das sax sich nicht den raum nimmt, der ihm angeboten wird. ich schätze, es ist der gleiche musiker, der danach auf dem sopran zu hören ist? das hat mehr zu sagen, wie es sich so durch den postboppigen swing hindurchschlängelt und langsam etwas impertinenz aufbaut. schöner ton auch. etwas hymnisches hat er auf beiden instrumenten. bass und schlagzeug machen sich dann ihren eigenen spaß. und als das tenor zurück kommt (warum?), hat es leider gar nichts mehr zu sagen und greift auch nichts mehr auf. ich bin sehr gespannt, wer das ist – wahrscheinlich jemand, den ich eigentlich sehr mag. tony malaby vielleicht sogar, mit parker und cleaver? dann wäre es einfach nur das falschen stück… ;-)

#3
das ist live und mono, vielleicht ein umgewandeltes video? ein coltrane-stück jedenfalls, welches, kriege ich noch raus – jedenfalls eines, das später auch noch ins repertoire von alice gewandert ist. drone music. fernöstliches instrumentarium, sitar und tabla, neben klavier und harfe, da macht jemand eine coltrane-familienaufstellung. klingt auf jeden fall alles super, weil sich alle wellenförmig in den vorder- und hintergrund spülen. hin und wieder verdichtet sich alles in den zwischenräumen, wenn sie aufeinander zu schwappen. das tenorsax kann man nicht gut hören, es spricht aber auch für sich, wenn es im hintergrund explodiert. keine ahnung, wer das ist. applaus klingt nach kleinem club.

#4
so was erwarte ich in einem wahr-bft. der exotismus aus dem vorherigen stück wird durch cut-up-montagen zu sowas wie globalem dada. könnte aus brasilien sein, oder halt wieder artsy prog rock. gefällt mir gut, wie es auf seinen zwei akkorden schwankt und dann vom gitarrensolo abgestochen wird. wenn es aus brasilien kommt, ist das vielleicht von tom zé oder einem ähnlichen irrlicht. (der hinweis im text auf ein „radio“ macht auch das montageprinzip verstänlich – hier zappt sich einer durch die sender). schön strange.

#5
das kommt ganz sicher aus brasilien. zwar nicht von einem irrlicht, aber vom schönsten rockstar seiner geschichte, der zu diesem zeitpunkt gerade eine ziemlich experimentelle phase hatte. woraus das nochmal genau ist, müsste ich überprüfen. auch, was er da eigentlich skandiert. immer und immer wieder, von schluchzenden streichern und einer beat-band umspült und angeschoben. auch das ist dada auf hohem niveau. super, wie leicht das schlagzeug dagegen arbeitet, sich zu langweilen. alles, aber auch wirklich alles, wird hier verschlungen, was der kapitalisten-rock so ausgespuckt hat – und es wird ein tropisches monster daraus. toll. und auch toll nach #4 gesetzt.

#6
gitarre könnte aus der gleichen zeit sein, aber wenn sax und vibrafon einsetzen, wird ein exotischer tanz daraus, der noch nicht so lange getanzt wird. auch sowas hat ecm ungewollt angeleiert, da geschieht es uns nur recht, dass der tenorsaxer garbarekt. das zwischenspiel schlägt einen gitarrenbogen von klassischer technik zu postrock, wozu dann auch die beiden vibrafone (oder –spuren) passen. polyrhythmus-strudel, ohne dass man jemals angst haben müsste, unterzugehen. ein bisschen zu hübsch gebaut, das alles, gefällt mir trotzdem zunehmend. gut auch, dass das tenorsax beleidigt ist und nicht mehr wiederkommt. weiß eigentlich @brandstand3000 von diesem bft?

#7
weiter mit progrock. minimal, polythmus, vibrafone. großartig, wie die klarinette wellenbewegungen mit unterschiedlichen frequenzen macht. als dann die ultra-catchige basslinie kommt, weiß ich, dass ich das kenne. ganz großartig jedenfalls, mit voller kraft ins epos. recherchiere ich noch, später, wenn der kopf wieder aus den wellen auftaucht. schön auch die warmen sounds, das e-piano. die klarinette. hat dabei überhaupt nicht die pathetische geste von ronin oder sowas, hier ergibt sich alles aus dem material und der wärme. danke für’s wiederentdecken.

#8
haha, die tollste halbe minute der deutschen musikgeschichte. wollte ich auch mal in einen bft packen, allerdings im remix eines großmeisters, der hieraus tatsächlich zweimal zwei takte sampelt und loopt und das stück damit auf die gleiche länge (und die gleiche coolness) bringt. toll, wie jazzmäßig hier alles aufeinander reagiert, kleine funken durch berührung.

#9
wieder so ein super übergang. ist das ein elektrisch verzerrtes sax? klingt fast wie kraftwerk, aber in fuzzy heaven. könnte auch aus den letzten 20 jahren sein, von so projekten wie funkstörung oder so. macht mir jedenfalls großen spaß (und hat auch nur zwei ideen, wie #8).

#10
das ist jetzt mein nervstück. ist auch übelst komprimiert, also digital verschandelt. das thema ist ja ganz schön, aber es wird so eine weinerlich-maskuline plattitüde daraus, die einfach unproduktiv verharrt. der gesang ist speziell, ironiefrei, ich dachte irgendwann an mali, kann aber auch ganz woanders herkommen. das ganze muckertum daran geht mir total auf die nerven, aber ich verstehe sehr gut, dass man das auch mögen kann. das e-piano ist epigonal übersättigt (coreahancock usw.), dann setzen sich die musikalischen elemente tonal schief zusammen und halten sich selbst für spannend. 14 minuten lang. gut, einen einzigen tiefpunkt darf ein bft haben ;-) am ende ist das noch jemand wie dave liebman… und der sänger rutscht in dessen schweißpfütze aus. meine güte, das nimmt kein ende. am ende (…?) kommen noch klezmer-anleihen. und ich habe kopfschmerzen.

#11
das sind spaßvögel (danke dafür, an dieser stelle). gleich mal klarmachen, wie viele sounds man so drauf hat. launiges katz- und mausspiel, bevor es der rhythm section zu langweilig wird. klingt für mich alles eher nach postmodernem us-jazz, vandermark? evans? der drummer schießt sich manchmal sehr lustig ab. es wird so recht kein schuh draus, aber es macht trotzdem spaß zu hören, vor allem, nachdem sich endlich der swing durchsetzt. der klarinettist wechselt auf tenorsax (oder?). die trompete holt er aber trotzdem nicht ein. bebop-zitat zum schluss, na klar.

#12
das hat mich gestern morgen schon umgehauen bzw. in ungläubige trance versetzt. ich habe keine ahnung, welche geschichte diese stimme mir hier erzählt, aber ihr timbre erreicht bei mir eine hirnregion, die sonst zu schlafen scheint. verrückt, was das klavier da manchmal hinzufügt. und wie schön das vinyl grundknistert. eine halbdurchlässiger schwarzer schleier. ich höre unzusammenhängende wörter wie „softness“, „fire“, „summer“, „cold“, und was von stillen häusern? unfassbarer track. mir fällt als vergleich nur die unvergleichliche patty waters ein.

#13
kenne ich natürlich. das original ist vom brasilianischen ableger der band, daher auch die funky mini-gitarre (cavaquinho), die analogsynthesizer und das aufgekratzte schlagzeug. hier haben wir eine ausgedehnte live-performance, bei der auch noch die kollegen aus chicago dabei sind. und wenn sich das kmplexe thema mal beruhigt hat, erhebt sich der große spiritus rector aus dem sessel und spielt an den akkorden vorbei. es sind zwar nur zwei, aber es sind eben nicht seine. auf dem papier sieht das super aus, das ergebnis überzeugt mich nach wie vor nicht. (es gab mal ein ähnliches gipfeltreffen vom duo mit tortoise und fred anderson in frankfurt, das funktionierte auch nicht gut, weil anderson ebensowenig verpflanzt werden kann). nach hinten raus, wenn die synths sich mit der nasenflöte verschalten, wird es hier dennoch sehr schön.

#14
das passt gut nach der nasenflöte und ist natürlich nochmal speziell irre. eine feldaufnahme, da spricht noch jemand arabisch. das instrument klingt mal nach synthesizer, mal nach saiten-, mal nach blasinstrument. die nahöstlichen oder nordafrikanischen tondehnungen wirken schon ziemlich analog, dann filtert sich das irgendwo durch, vielleicht auch nur durch das mangelhafte aufnahmeequipment. so oder so klingt es wie aus einer anderen welt. seit man sowas auch elektronisch herstellen kann, gibt es trap ;-)

#15
und diese eigene welt hat uns gerade verlassen. wer kriegte hier nochmal welchen sound nicht transparent genug aufgezeichnet? ich kenne die aufnahme persönlich nicht, kann aber sofort identifizieren, wer das ist. zwei bässe lassen auf eine besetzung mit alan silva schließen, der drummer muss cyrille sein, der vor allem mit der kontinuierlichen attacke des pianisten gut umgehen kann. das ist alles vom klavierstuhl in den raum geschossen, völlig auf speed, auch gedanklich – bevor man was fühlt, ist der schon vorausgeprescht, hat umgedreht und kommt einem auf der anderen seite schon wieder entgegen. toll die momente, wenn er den sound in gleichzeitig ganz hohe und ganz tiefe töne aufklappen lässt und dann, wie mit einer dritten hand, den raum dazwischen bearbeitet. auch schön, wie das wieder ins thema kommt, mit den heiseren saxstimmen, dazu vom klavier eine abgezirkelte figur, keine akkordbegleitung. morsezeichen in eine kältere welt.

vielen dank für den trip!

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