Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Laurin
(Regie: Robert Sigl – Deutschland/Ungarn, 1988)

Ein idyllischer Hafenort im Jahre 1901. Der Tod in der Gestalt eines schwarzen Mannes geht um. Kleine Jungen verschwinden und kehren nie wieder zurück. Das Dorf lebt in Angst. Als eines Tages eine junge Frau mysteriös ums Leben kommt, scheint alle Hoffnung verloren. Nur die Tochter der Getöteten, Laurin, scheint sich dem ganzen Spuk zu stellen. Mit Hilfe ihres „zweiten Gesichts“ versucht sie die Rätsel um den schwarzen Mann aufzuklären.

Die Idee und die ganze Geschichte zu „Laurin“ entwickelte Regisseur Robert Sigl aus einem Bild seiner kindlichen Vorstellungswelt, einem albtraumartigen Gedankenblitz, der ein kurzes Schlaglicht auf eine kapuzenbemantelte Frau wirft, die in einer sturmtosenden Gewitternacht über einen verfallenen Friedhof eilt. Mehr ein Stimmungseindruck als der Beginn einer Erzählung, folgt hieraus das düstere Märchen über ein seherisch begabtes Mädchen an der Schwelle zur Pubertät, deren Sinne für das Morbide durch den Tod der Mutter und die Abwesenheit des Vaters geschärft sind. Letztlich sorgt sie für die Entdeckung und Bestrafung eines Knabenmörders, der wie der „Fänger im Roggen“ heranwachsende Jungs vor dem Leid schützen will, das ihm sein eigener Vater, der Dorfpfarrer, in der Kindheit angetan hat.
Neben den tiefenpsychologischen und manchmal latent homo-erotischen Vater-Sohn-Konflikten, die sich unterschwellig durch den Film ziehen, glänzt an der Oberfläche eine Rotkäppchen-Variante, die sich ebenso von den Schauergeschichten eines E.T.A. Hoffmann inspirieren lässt, wie sie auch den „gothic horror“ der britischen Hammer-Studios für sich nutzt, um schließlich in den stark stilisierten Bildwelten Mario Bavas aufzugehen.
Ein Filmprojekt, welches einem suggestiven Einzelbild entspringt, darf nicht im Nacherzählen von gängigen Topoi versanden und Robert Sigl erweist sich als talentiert und einfallsreich genug, um „Laurin“ vom Sehen her auf die Füße zu stellen. Der Großteil der Einstellungen kann quasi als Gemälde für sich stehen und dient nicht als bloßes Abbild einer Handlungseinheit. Manchmal verstärkt Sigl den gemäldeartigen Effekt, indem er die Bewegungen innerhalb der Kadrierung sehr zurücknimmt oder sie zu Beginn der Szene pausieren lässt. Eine Abfolge von detailgenau inszenierten Tableaux ergießt sich über den Zeitraum, den „Laurin“ auf der Leinwand einnimmt, manchmal unterbrochen durch Nahaufnahmen, die einzelne Gegenstände mit eigensinnigem Leben aufzuladen scheinen.
Mit Mitte 20 und gerade frisch von der Filmhochschule befindet sich Sigl in seinen besten Momenten auf Augenhöhe mit Vorbildern wie Dario Argento, ohne jedoch deren augenscheinliches Interesse an fetischisierter Gewalt zu teilen. Ironischerweise bezeichneten Arthaus-Kreise „Laurin“ zur Zeit seiner ersten Aufführungen als „blutrünstiges Machwerk für ein Nischenpublikum“, obwohl der Film, bis auf ein kurzes, moderat splatteriges Finale, der Gewalt keine besondere Rolle zugesteht. Vieles spricht also für einen Dünkel der deutschen Filmschaffenden, die die Qualitäten des Genrefilms, besonders des Horror- oder Fantasyfilms, nicht auszumachen wissen. Sigl beklagt diese heutzutage immer noch vorhandene Einstellung in Interviews, spricht ansonsten aber mit erstaunlicher Langmut über seine heftigst torpedierte künstlerische Karriere. Man enthielt ihm den „Deutschen Filmpreis“ mit der Begründung vor, sein Debüt sei nicht in Deutschland gedreht und „weise überhaupt zu viele byzantinische Gesichter auf“.
Aus Kostengründen verlegte man die Produktion von „Laurin“ nach Ungarn, wo man auf 35mm-Film und mit einheimischen Schauspielern drehte. Ursprünglich an der Nordsee angesiedelt, verstärkt die wie aus der Zeit gefallene Wirkung der ungarischen Dörfer, Gebäude und Naturansichten die Jahrhundertwendeatmosphäre und sorgt für den nötigen, verwunschenen Märchenton, kombiniert mit der robusten Ruralität, die man an der deutschen Küste nie gefunden hätte.
Die ungarischen Darsteller empfehlen sich durch die Bank mit ihrem Spiel (besonders Hauptdarstellerin Dóra Szinetár, deren Antlitz wunderbar das Vexierspiel zwischen Kind und junger Frau ausdrückt), obwohl einige die englischsprachigen Dialoge phonetisch lernen und imitieren mussten, was der außerweltlichen Wirkung von „Laurin“ jedoch eher nützt, denn schadet.
„Laurin“ gehört eindeutig zu den Großtaten des neueren deutschen Films, wie peinlich wirkt da die Information, dass man Robert Sigl bis heute kein Projekt nach eigener Vorlage mehr finanzierte, sondern ihm Auftragsarbeiten fürs internationale TV zuschusterte (wenn’s besser lief) oder er gleich an Krimiquatsch für ein Idiotenpublikum wie „Alarm für Cobra 11“, „Tatort“ oder „Der Ermittler“ verschwendet wurde – nicht ohne hin und wieder diesen Produktionen seinen Stempel aufzudrücken. Selbst im Umfeld dieser Tristesse wirkt Sigls Gespür für brillant bebildertes Genrekino noch so eigen und aufrührend, dass die BILD-Zeitung eine (leider erfolgreiche) Kampagne gegen einen seiner Saarbrücker Tatorte führte, die zu Schnittauflagen seitens des Senders führten, einen Tag vor der angesetzten Ausstrahlung.
Kein Grund sich den Abend von Provinzfernsehfürsten und der Journaille verderben zu lassen, denn die Jungs von BILDSTÖRUNG, einem fantastischen Kölner Filmlabel, haben „Laurin“ für die Blu-ray-Veröffentlichung in digital restaurierter 2K-Abtastung vom eigentlich verschollen geglaubten Originalnegativ aus der Versenkung geholt. So exquisit wie dort, sah Robert Sigls erster Film wahrscheinlich höchstens bei seiner Premiere aus: Das bava’eske Farbenspiel kommt in der kargen Umgebung der ungarischen Dörfer erst richtig zur Geltung. Hungarian Gothic, wenn man so will. Ein prächtiges Kleinod, das im Deutschen Film seinesgleichen sucht.

Trailer

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