Antwort auf: Blindfold Test #25 – Nicht_vom_Forum

#10382373  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,339

#1 – Ein Einstieg mit John Coltrane? War der neulich mal in Kölle? ;-) Elvin Jones an den Trommeln und Becken, auch schön … wenn nach einer Minute ein festes Metrum etabliert wird, entfernt sich das ein wenig, mit der Gitarre dann erst recht, aber der Saxer hört sich weiterhin stark nach Coltrane an, vielleicht da und dort eine Note Wayne Shorter? Einen so konventionellen Opener hätte ich jetzt irgendwie nicht erwartet, aber das ist schon gut gemacht, keine Frage. Die Gitarre geht im Mix leider ziemlich unter, ist aber vom Sound her auch nicht so ganz nach meinem Geschmack – Hard Bop-Gitarre mit etwas zuviel Metheny-Weichzeichner an den Kanten. Wenn das Sax wieder einsteigt bahnt sich auch gleich das Duo mit Elvin an (Bass gibt es ja gar nicht, oder mögen den meine Laptop-Lautsprecher nicht hervorzubringen?), auch das klassischer Coltrane. Aber der Herr (oder die Dame?) am Sax ist wirklich gut … und bricht auch viel eher als die Gitarre aus dem Hard Bop aus. Schön aber unspektakulär, Namen mag ich nur zaghaft in den Raum werfen, die allenfalls gemeinte Dame ist ja eh klar, ich kenne sie noch nicht gut, denke aber nicht, dass sie das ist … an Lillinger dachte ich mal kurz, als die Drums mir (gegen das Ende hin) nicht mehr so gefielen  :whistle:

#2 – Ein ECM-Piano-Trio-Intro, etwas beschaulich? Dann wieder ein Tenor, mit anderem Ton, zurückhaltender, aber auch ein wenig 90er-Young-Lions mässig (ich meine diese kurzen „Härtungen“, 1:08 im Thema, im Solo dann dann z.B. 1:55-1:59 und dann um 2:22 herum … das ist dann eher Michael Brecker, nicht mehr Coltrane)? Die Gitarre dann, hmmm … das ist vom Ton her wieder nicht mein Ding, passt irgendwie überhaupt nicht rein, klingt nach Plastic (also: Rock). Doch wie sich das alles zusammensetzt gegen Ende des Gitarrensolos, wie das Piano sich verzahnt, das Sax dann wieder einsteigt – der Schluss gefällt mir sehr gut!
Repeat. Nein, gefällt mir vorne nicht besser – auch wie es quasi einbricht, wenn die Gitarre übernimmt, da verschwindet irgendwie auch gleich die Spannung, dünkt mich. Dafür finde ich beim zweiten Hören das Gitarrensolo ziemlich gut – sehr flächig, behutsam tastet es sich vor (ist das dahinter ein E-Piano oder klingt nur das Klavier so? da helfen die schlechten Lautsprecher nicht mit). Also: gutes Gitarrensolo mit nicht so tollem Sound und dann ein schönes Ende.

#3 – Tuba, Kölle … Carl-Ludwig Hübsch? Oder gibt es da noch andere? Das ist nämlich für seine Verhältnisse – vom wenigen her, was ich kenne zumal – etwas hübsch hier. Gefällt mir bis hierhin aber ganz klar am besten – die Rhythmen sind zerklüftet, die Sounds – der einzelnen Musiker wie auch des Ensembles als Ganzem mit der Marimba – wirken auf mich ein ganzes Stück persönlicher. Auch wieder ein Tenor, das sich zunächst aber fast wie ein Alt ausnimmt. Das Saxsolo ist ziemlich toll, wird auch klasse begleitet (könnte auch wieder Lillinger sein, aber den höre ich jetzt wohl in jedem zweiten Stück ;-) ) – das Marimba- oder doch Vibraphon aber ohne Motor? – Solo finde ich dann auch ganz gut … bisher eindeutig mein Favorit hier!

#4 – Huch, ein Beat aus der Lektion drei für Nachwuchsdrummer? Ein Klavier, das gerne mysteriös wäre? Eine Flöte … möchte man hier Bond-Atmosphäre erzeugen? Das lustige ist ja, dass allmählich sogar gelingt, nur in der Weise, wie hier geschichtet wird, das klagende Altsaxophon, das Piano … das hat was, bleibt mir am Ende aber vielleicht eine Spur zu kontrolliert. Der Pianist singt mit, könnte man daher wohl erkennen, wenn man ihn denn kennt … sein Solo ist ganz gut, aber vom Schlagzeug wünschte ich mir etwas mehr, und vom Bass mehr von diesen kleinen Ausflügen weg vom Lick. Wie das dann in der Mitte Fahrt aufnimmt, wenn das Sax zum Klavier dazukommen, hat von der Dramaturgie fast was Latin Jazz-haftes … wieder nicht wirklich meins, aber schon ganz gut.

#5 – Der Groove des Basses hat einen leicht südafrikanischen Touch … das Sax-Solo finde ich ganz in Ordnung (hat viel Steve Coleman und Greg Osby gehört), dass Bass-Solo dann aber gar technokratisch.

#6 – Der gleiche Typ Altsax … noch so ein Groove, darüber eine Oud – klingt von denen, die ich kenne, am ehesten nach Rabih Abou-Khalil, was dann hiesse: Sonny Fortune, aber das wiederum glaub ich nicht, der Herr hier klingt fast wieder im Track zuvor, gleiche Hausaufgaben gemacht … aber Abou-Khalil ist das eh nicht, denke ich, kenne von ihm aber nur wenige ältere Sachen … etwas langfädig finde ich, das Oud-Solo in der Mitte kommt viel zu spät und wirkt vom ersten Eindruck her etwas angepappt.

#7 – Und dann gleich ein echter Stilbruch … das ist jetzt wirklich ein grauenvoller Gitarrensound – und ich denke gerade: der einzige, von dem ich sowas tolerieren würde, ist wohl Marc Ducret, den ich demnächst mit Tim Bernes Big Satan auf dem Konzertmenu habe. Könnte er wohl auch hier sein … jedenfalls gefällt mir das Stück in der Mitte mit dem warmen Altsax (die bieden davor in #5 und #6 haben kein Gramm dieser Wärme – für mich ein Problem bei vielen Altsaxern der letzten Jahrzehnte: satt mag ihr Ton sein, aber etwas Wärme kann nicht schaden, auch wenn das vielleicht uncool ist, was weiss ich) plötzlich ziemlich gut und die Gitarre ergibt irgendwie auch Sinn (wenn es Ducret ist, ich hörte ihn nur einmal live bisher, im Trio mit Hank Roberts und Jim Black, das war ziemlich irre).

#8 – Und das ist jetzt das erste Stück, das in eine Richtung geht, wie ich es beim ganzen BFT erwartet hätte :-) Ich denke hier unweigerlich wieder an Lillinger … die Bassklarinette ist super, überhaupt wie das Quartett sich verzahnt, das ist dann mal ein passendes Einsatzgebiet für Lillingers Nervosität, so er es denn ist. Bass, Gitarre und Drums verschmelzen beinah, die Gitarre ist vom Sound her angerockt aber weniger krass als in #7 und stört mich hier überhaupt nicht. Wie das Stück fortschreitet, löst sich zugleich alles immer stärker auf und wird immer engmaschiger … dann übernimmt die Gitarre, bleibt aber in diesem engen Bereich mit wenigen Tönen … der Bass löst sich dann etwas heraus, die Verdichtung nimmt ab, die Gitarre spielt Einzeltönen, was plötzlich Raum gibt, das ist auch von der Dramaturgie her ziemlich toll. Wir sind damit in der Mitte und für mich beim zweiten wirklich guten Track, auch wenn das eher keine Musik ist, die ich regelmässig zuhause anhören würde.

#9 – Und gut geht es gleich weiter. Das ist vielleicht ähnliches Territorium wie #1, aber der Ton des Tenorsaxers ist verschatteter, weicher, voller, ein Vorbild ist hier nicht sofort erkennbar. Nach zweineinhalb Minuten fallen wir aber schon wieder einen dieser Postbop/Post-M-Base-Grooves, von denen es hier schon gar viele u geben scheint … vermutlich wird das auf ewig eines meiner Probleme mit dem Jazz der Neunziger bleiben (und das war ja danach nicht einfach weg, ich hörte ja gerade Mark Turner im Konzert, der machte damals auch sowas, natürlich auf seine weise und mit ganz anderem Ton). Aber das bleibt hier dennoch ansprechend, das Bass-Solo lässt sich nach der verwalteten Langeweile oben (ich nannte es technokratisch) ziemlich gut, die Drums passen dazu. Die Drums sind beim Wiedereinstieg des Saxers dann auch toll – vieles hier ist ziemlich einfach, wirkt klar und entschlackt und gerade deshalb gefällt es mir sehr gut, auch in der Steigerung, sei es in der zweiten Sax-Passage oder im „zickigen“ Thema des Ensembles. Dass das ive ist überrascht dann auch nicht unbedingt – hier möchte ich weiterhören.

#10 – Trompete und Bass und Trommeln – Gepuste, Gespucke, Geschabe, Geraschel, Geklöppel … und ein offenes Klavier ist auch noch dabei, wie ich erst allmählich mit Sicherheit feststelle (ab ca. einer Minute ist das dann klar). Gefällt mir – und nochmal: ich hatte ganz viel solches erwartet und dazwischen mal sowas wie #9 … was ist da noch, ist das die Trompete, die so tiefe Töne produziert oder noch ein weiteres Instrument? Axel Dörner kann und macht sowas, aber wie generell hier habe ich nicht gleich Namen zur Hand. Ach, in der Mitte bricht das plötzlich … aber wie es dann weitergeht bleibt sehr charmant, ein Rumpel-Groove wird angedeutet, Ahnungen von Beschaulichkeit gleich vertrieben, die Glöcklein vom Anfang sind immer noch dabei … ist hier auch noch ein Cello dabei? Ja, ab der vierten Minute ist das klar … die Dame, von der wir’s ein paar Mal hatten? Gefällt mir auch wieder sehr gut hier – und obwohl das keine typische Musik für bei mir zuhause ist, könnte ich mir vorstellen, dass das ab und zu liefe. Aber: ist das jetzt eine Posaune oder eine Trompete? Beides zugleich höre ich nicht, aber das muss ja wiederum nichts heissen. Ich tippe auf Niggenkemper am Bass, mit diesen seltsamen einzelnen Präparationen – diese überdimensionierten Blechtricherdinger, der er am Griffbrett zwischen die Saiten schiebt?

#11 – Das geht fast nahtlos weiter … aber hier ist ein Sax dabei – irritierte mich auch gleich, bevor ich merkte, dass ein neuer Track begann – also nochmal von vorn. Piano fehlt, vorhin gab es wohl wirklich Cello und Bass, hier nur noch eines davon, eher einen Bass, tippe ich mal, der gerne Flagoelett-Kürzel einstreut. Und ja, da ist dann das Saxophon auch mit konventionellen Tönen – wieder ein Sax/Bass/Drums-Trio also, fällt mir gerade nicht so leicht, das als Alt oder Tenor zu identifizieren, der Ton ist schön, klingt eher nach Alt, aber geht manchmal zu tief runter, glaube ich … also Tenor. Die Läufe sitzen und sind auch so gestaltet, dass sie im freien Umfeld nicht plump wirken und sich dann auch wieder auflösen können, ohne dass eine Bruchlinie entsteht … sehr gut! Ich bin erleichtert, dass mir die zweite Hälfte bisher ausnahmslos gefällt, nachdem ich den Start doch ziemlich harzig fand.

#12 – Und jetzt wieder ein Alt mit zartbitterem Ton, über gestrichenen Bass und getupftes Klavier. Sehr schön wie sich das entwickelt, minimales Schepper-Schlagzeug, das Piano wird mit der Zeit fast schon Taylor-mässig dicht, das Sax überschlägt sich, spricht in Zungen. Auch das gefällt mir wieder hervorragend. Wie das Piano dann plöztlich die Führung übernimmt … was ist das denn jetzt, ein Alt kommt nicht so tief runter – Trichter zugestopft? (Kenn ich – anders als rasch Knie hinhalten – nur von Urs Leimbgruber, aber der ist das hier natürlich nicht.)

#13 – Klaviertrio der freieren Sorte – und auch wieder toll, obgleich die Ausbrüche gegen Ende hier etwas weniger organisch aus dem Ganzen wachsen, etwas plötzlich scheinen und etwas aufgesetzt wirken. Aber bis dahin und auch danach wieder gefällt mir das sehr gut. Repeat. Hm, gefällt schon ziemlich gut, aber der so ab 6:00 angesteuerte Höhepunkt wirkt wirklich etwas aufgesetzt, finde ich – inklusive „Ruhepause“ mit dem Bässchen …

#14 – Jetzt sind wir also zum Abschluss im Klaviersegment? Ein Sax ist zwar auch dabei (toller Ton!), aber hier geht es erstmal das Piano, das mit einer zickigen Bestimmtheit vorgeht, die ein wenig an Monk erinnert. De Eindruck verstärkt sich im Sax-Solo sogar noch: die Begleitung zieht stur weiter, das Tenorsax kann sich darauf einlassen, sich reinlegen, oder auch dagegen anspielen – schön. In bester Monk-Tradition darf (fast) jeder ran, also als nächstes ein Bass-Solo, das sich etwas schwer tut sich bei der Piano-Begleitung zu etablieren, aber in der Verdichtung bei gleichzeitiger Reduktion liegt hier ja gerade der Reiz – und da sind wir auch beim Schlagzeug, das nicht auch noch ran darf aber stoisch einen völlig ausgespaarten Beat hinlegt, diesen da und dort etwas ausschmückt, mal ein Becken rauschen lässt, dann einen Roll auf der Snare andeutet … fein!

#15 – Das setzt dann gut an in der Reduktion, auch wenn der Tenorsaxer natürlich viel mehr herumstänkert als sein Vorgänger. Ein Duo nur mit einem Kontrabass, das ist schon klanglich sehr attraktiv, finde ich. Ein toller Ausklang, der natürlich viel mehr als bloss ein Ausklang ist!

Danke! Hat trotz des harzigen Einstiegs Spass gemacht! Das waren wie immer erste Eindrücke, ausser rasch durch das Oeuvre von Rabih Abou-Khalil zu gucken (ich kenne da wohl gerade mal zwei Alben aus den frühen/mittleren Neunzigern, sonst nur Live-Mitschnitte, sah ihn ca. 2006 auch mal im Konzert) habe ich nichts gegoogelt, auch weil ich gar nicht wirklich wüsste, wo ich ansetzen müsste – aber darum geht es ja hier wohl auch in erster Linie nicht.

Ich schreibe auch schon heute, weil die kommende Woche wieder viel zu geschäftig wird (einmal Jazzkonzert, einmal Oper, einmal Kunstausstellung, einmal hoffentlich auf ein Bier mit einem ehemaligen Arbeitskollegen …), ich also frühestens am Freitag wieder richtig Zeit habe für eine nächste Runde. Aber ich bin natürlich auf weitere Eindrücke gespannt und werde den Thread hier verfolgen!

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba