Antwort auf: Jahresrückblick 2017

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gypsy-tail-wind
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gypsy-tail-wind
Dass viele Frauen dabei sind, überrascht nicht, wenn man den erwähnten BFT mitgekriegt hatte – der ja ausschliesslich Alben von Musikerinnen präsentierte. Da ändert sich wohl wirklich gerade etwas, es gab jedenfalls noch keine Epoche in der Jazzgeschichte, in der Frauen – jenseits von Sängerinnen und gelegentlich Pianistinnen – so zahlreich vertreten waren.

das stimmt sicherlich, aber 2017 war auch das jahr einer großen sexismus-debatte im jazz, zumindest in den usa, nicht zuletzt getriggert durch ein unseliges interview von ethan iverson mit robert glasper im märz, bei dem letzter die musikalische produktivkraft auf jazzbühnen im wesentlichen als männlich voraussetzte und die rolle von frauen in diesem kontext als empfängerinnen handfester erotischer signale schön passiv im publikum verortete. das ganze war natürlich (natürlich!) wertschätzend als spiel der geschlechter gemeint, und der shitstorm, der iverson danach erreichte, hatte vor allem damit zu tun, dass er da dem kollegen nicht in die parade gefahren ist. typische reaktion: der sich als liberal und unmarkiert weiß und männlich verstehende iverson erschreckt sich, fühlt sich als opfer, bis man ihm mal vorrechnet, mit wie vielen männern (42) und wie vielen frauen (0) er bislang seine vielbeachteten interviews geführt hat. diese schöne antwort (fast ein halbes jahr später) einer 19-jährigen jazzvibrafonistin zeigte wohl am besten die tragweite des problems.

Hatte ich überhaupt nicht mitgekriegt, macht das Männermachogehabe aber nur noch jämmerlicher … sollen sie labern, interessanter ist doch, wer die wirklich anregende (ähm nein, nicht sexuell, eher intellektuell, aber das begreifen viele Männer halt auch nicht so richtig, auch nicht die alten Jazzsilberrücken, aber die sterben ja gerade davon – ob das nun gut oder schlecht für den Jazz ist, weiss ich nicht, denn viel Publikum wächst ja nicht gerade nach) Musik macht – und da haben die Frauen schon enorm zugelegt und kriegen bei manchen Labeln auch Platz.

Drüben auf Org kam gerade die Frage hoch, ob wir denn in der Zeit der Frauen angekommen sind und da hat Herr Sangrey gerade mal wieder zu einem ungenauen Rundumschlag ausgeholt, in dem er ein Interview mit einer Komponistin zeitgenössischer Musik zitiert, die die gesamte westliche Musik als aus männlicher Sicht sexuell aufgeladen (lots of thumping and then a climax oder so ähnlich wäre die Kurzformel) betrachtet – und das als völlig uninteressant betrachtet. Nicht ganz von der Hand zu weisen, befürchte ich, gerade Modelle, in denen Musik weiterläuft, endlos, in Schleifen etc. haben es ja doch ziemlich schwer bzw. fristen ein Dasein in Subkulturen, werden als exotisch betrachtet etc.

Aber klar, es läuft daneben auch ein gigantischer Backlash, der selbst einen TV-Clown wie Trump an die Spitze zu spülen vermag – das ist sehr beängstigend. Und ob es sich dabei nur um ein letztes Aufbäumen handelt mag ich nicht zu beurteilen, ich befürchte leider nicht.

Anderswo las ich gerade ein Interview (Herr Sangrey weiss nicht mehr, wer diese Komponistin war, ich weiss es noch: Zadie Smith in der NZZ, aber ich las parallel dazu noch was zum Thema, glaube ich, und das bringe ich auch nicht mehr zusammen, zuviel gelesen die letzten Tage), in dem der Punkt erörtert wird, dass es nicht die Hip Hop-Welt ist, die frauenverachtend etc. sei, sondern dass diese Szene uns gleichsam einen Spiegel vorhalte, in dem halt die ganzen Maskeraden, die im Alltag, in der Politik, der Businesswelt etc., so mühsam aufrecht erhalten werden, heruntergerissen wurden, in der natürlich auch mit Mitteln wie Parodie, Übertreibung etc. vorgegangen wird. Das ist gewiss keine allzu steile oder neue These …. und was Du über Glasper schreibst (ich muss das erstmal nachlesen, verfolge Iverson selbst nicht und hier wurde man glaube ich nicht darauf hingewiesen? sonst habe ich das verpasst) lässt aber gerade nicht schliessen, dass er ein solches Spiel betreibt. Es sind ja auch nicht alle dazu gemacht, leider, die Dinge zu hinterfragen – und das kann gerade in der Szene (ich rechne ihn jetzt mal im weiteren Sinn der Hip Hop-Welt zu, das darf man wohl?) dann natürlich völlig in die falsche Richtung losgehen.

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