Antwort auf: Gipettos Rezi-Kiste

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gipetto
Funk 'n' Punk

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International – Grenzfall (1982)

Es war Mitte Oktober, als ich die Samstagsausgabe der Wolfenbütteler Zeitung aufschlug und einen zweiseitigen Bericht über die legendäre, in der kleinen Ortschaft Lucklum gelegenen Musikkneipe „Schlucklum“ entdeckte. Der 1977 eröffnete Club, der sich ob seines exquisiten Musik- und Konzertprogramms in rustikalem Ambiente schnell einen legendären Ruf erarbeitet hatte, hätte dieses Jahr sein 40jähriges Bestehen gefeiert, sofern er in den späten 90er Jahren aus Gründen der örtlichen Bauplanung nicht seine Pforten hätte schließen müssen. Um das „Schlucklum“ selber noch ausgiebig genießen zu können, war ich seinerzeit noch zu jung, so dass es nur bei ein paar wenigen Besuchen blieb, die ich jedoch in prägender Erinnerung behielt. Bei der weiteren Lektüre des Artikels fiel mir dann plötzlich alles aus dem Gesicht: Am 3. November sollten International, eine der Lokalgrößen der frühen 80er Jahre und eine der damaligen Hausbands des „Schlucklums“, anlässlich des fiktiven Jubiläums ein einmaliges Revival-Konzert spielen. Stattfinden sollte dieses im „Wirtshaus Wegwarte“, das Ende der 90er Jahre von einem der Betreiber des Clubs im gleichen Ort eröffnet wurde und sich schnell zu einem einschlägigen Lokal entwickelte. Mit viel Glück konnte ich noch eine Karte ergattern und erlebte gemeinsam mit vielen meiner Weggefährten und Freunde von damals ein rauschendes Fest, bei dem der leider viel zu kurze und restlos ausverkaufte Auftritt von International in kompletter Originalbesetzung ein absolutes Highlight wurde, bei dem die Band aufspielte, als hätte es die Trennung vor rund drei Jahrzehnten nie gegeben. Anlass genug, mich einmal mehr dem einzigen Album der Gruppe zu widmen, das 1982 unter dem Namen Grenzfall veröffentlich wurde und mich seit nunmehr knapp 20 Jahren treu begleitet, obwohl ich altersbedingt kein Zeitzeuge der Band bin.

International waren eine achtköpfige Truppe, deren Mitglieder aus dem Braunschweiger und Wolfenbütteler Raum stammten, wobei einige auch direkt in meinem Heimatdorf ansässig waren. Die Band verfügte neben der klassischen Bandbesetzung mit Gitarre, Bass, Schlagzeug und Tasten außerdem über einen hauptamtlichen Perkussionisten sowie eine dreiköpfige Bläsersektion. Doch trotz der vermeintlichen instrumentalen Dichte ist das Album angenehm zurückhaltend und transparent arrangiert und nicht erschlagend produziert. Musikalisch wird überwiegend melodiöser Rock mit funkigem Fundament geboten, der außerdem erheblich durch karibische Spielarten wie Reggae oder gar Calypso (Nur bei Kleckermann) beeinflusst und ergänzt wird. Mit Viel Frieden, Larifari Safari und Heinz und die Hascher werden sogar drei lupenreine Roots-Reggae-Stücke dargeboten. Insbesondere Texter und Komponist Helge Preuß, heute wohl Braunschweigs bekanntester Gitarrist, legt – damals noch am Bass – eine unglaublich groovende und variable, dabei aber immer songdienliche Basis für die Tracks. Der deutschsprachige Leadgesang wurde auf mehrere Schultern verteilt, während die gesamte Combo immer wieder tolle Harmoniechöre beisteuert.

Textlich agiert die Truppe auf Grenzfall mit einem klar politischen Auftrag, geht dabei aber stets mit Humor zur Sache. Statements gegen Konsumterror und Dekadenz (Schenk-O-Mat, Versilbert, Nur bei Kleckermann) und die grotesken Auswüchse des Pauschaltourismus (Larifari Safari) lassen sich ebenso finden wie das Anprangern der politischen Instrumentalisierung und des Ausverkaufs der „Ware Frieden“ (Viel Frieden) und die immer noch aktuellen Debatte über die entgegengesetzte Gesellschaftsfähigkeit zweier gängiger Rauschmittel (Heinz und die Hascher). Mit dem Opener Zonenrandgebiet war der Band sogar ein regionaler Hit vergönnt, der über viele Jahre – sogar noch zu meinen Zeiten – auf wirklich jeder Partie lief und mit Witz anhand der Schilderung eines Militärmanövers auf dem Dorfe die Lebensumstände „kurz vorm Zaun“ beschreibt („Hier ist ja sowieso nichts los, strategisch wichtig sind wir bloß“).

Grenzfall, das physisch ausschließlich auf Vinyl erschien und natürlich längst vergriffen ist, ist seit nunmehr fast zwei Dekaden einer meiner persönlichen Schätze und findet seither immer wieder regelmäßig seinen Weg auf den Plattenteller, ohne dabei jemals an Hörvergnügen eingebüßt zu haben. Meine Wertschätzung für dieses Album geht ob der gebotenen Qualität weit über den musikalischen Lokalpatriotismus hinaus. Und schließlich haben International mit Ich will leben eine der größten Hymnen meines Lebens geschrieben…

„Lasst die Brötchen krachen!“

 

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"Really good music isn't just to be heard, you know. It's almost like a hallucination." (Iggy Pop)