Antwort auf: The Modern Jazz Quartet

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The Modern Jazz Quartet 1958 – Sommer mit Sonny im Music Inn
 
Im Januar 1958 wurde das MJQ wie schon erwähnt in San Remo mitgeschnitten, im April nahm Jackson sein zweites Album mit Ray Charles auf (Percy Heath mit dabei), vom Juni gibt es dann TV-Aufnahmen des MJQ (KABC-TV, Stars Of Jazz #101), die ich leider ebensowenig wie die San Remo-Aufnahme kenne. Im August fand das MJQ sich dann zum dritten mal im Music Inn in Lenox ein, und die Toningenieure von Atlantic waren einmal mehr dabei.
 

1958-08-03 – Music Inn, Lenox, MA
1958-08-31 – Music Inn, Lenox, MA

Atlantic

Wie beim „Modern Jazz Quartet“-Album vom Vorjahr standen Stücke auf dem Programm, die bei den vielen Konzerten der vergangenen Monate vertraut geworden waren. Los geht es mit einem Medley aus „Stardust“, „I Can’t Get Started“ und „Lover Man“, in dem Milt Jackson solistisch im Zentrum steht, während Lewis einmal mehr tolle Begleitungen spielt und vermutlich für die gelungenen Überleitungen zwischen den Stücken verantwortlich zeichnet. Jackson beweist einmal mehr, was für ein toller Balladenkünstler er war. Weiter geht es mit einem der liedhaftesten Stücke Charlie Parkers, „Yardbird Suite“, das Thema präsentiert das Quartett zunächst gewissermassen pointillistisch im Wechsel, dann kriegt Jackson ein paar Takte Stoptime (ohne Bass, mit durchlaufenden Becken von Kay), bevor die ganze Band einsetzt und schliesslich Lewis übernimmt und eins seiner typisch sparsamen Soli spielt. Es folgt „Midsömmer“, auch einst für das Third Stream-Album „The Modern Jazz Society Presents“ arrangiert und bereits beim TV-Auftritt gespielt. Auf dem zweiten Music Inn-Album findet sich die offizielle Premiere des Stückes in der MJQ-Fassung. Das Stück ist vom Arrangement her recht sparsam, lässt im langsamen Tempo viel Raum für stimmungsvolle Beiträge von Jackson und Lewis, Heath/Kay sind dabei exzellent, wobei die Arbeit von Rhythmusgruppen ja gerade bei Balladen nicht besonders oft auffällt (und die Atlantic-Crew hat allmählich auch den Triangel aufnahmetechnisch etwas besser im Griff … noch nicht gut, aber besser – befremdlich, das). Die Rhythmusgruppe ist auch im folgenden, schnelleren „Festival Sketch“ wieder toll, einem etwas zerklüfteten Thema, in dem Bebop-Versatzstücke auf Blues-Klischees und Barock-Phrasen stossen und in dem Jackson einmal mehr glänzt.

Die letzten beiden Titel sind zusammen über eine Viertelstunde lang und präsentieren den auf dem Cover angekündigten Gast. Bei der Fülle an herausragenden Alben, die dieser in den Fünfzigern und frühen Sechzigern eingespielt hat, blieb dieses Album bei mir stets aussen vor, ich höre es heute zum allerersten Mal (wie andere aus der Mosaic-Box, die noch nicht so lange im Regal steht – von den 13 1/3 Alben hatte ich davor bloss vier oder fünf). Tenorsaxophonist Sonny Rollins stiess für ein Konzert im Music Inn zur Gruppe – zum ersten Mal seit der gemeinsamen Prestige-Session fünf Jahre zuvor. Doug Ramsey berichtet in den Liner Notes zur Mosaic-Box über ein Gespräch mit Rollins von 2011:

Doug Ramsey
When I quote Gunther Schuller’s observation that „Sonny was in one of his more whimsical and sardonic moods that night,“ Rollins laughed at length. „Well, that’s great,“ he told me, still chuckling. „I haven’t heard that records in years and years. I usually shrink when I hear my own recordings, but I remember that the last time I heard it I didn’t shrink so much.

„When Milt first came to New York, we played at Minton’s Playhouse. We hung out a lot. I knew Percy maybe even a little better than the others, we played together so much, and I was close fiends with Connie Kay. I heard John with Charlie Parker and he accompanied Lester Young, so that’s when I became aware of his soloing. And he’s a great writer. It was great fun just to be playing with musicians of that caliber,“ he said. „Considering the success that they’d been having around that period, it was a real boon for them to ask me to do something with them.“

Das Zitat von Schuller stammt wohl aus den Liner Notes zum Album, die Ramsey dann auch noch ausführlich zitiert:

Gunther Schuller
On both tracks, we hear [Rollins] fooling around with little motives, toying with them and his instrument–almost as a cit will with a mouse–spoofing and kidding, at time facetious and at others pleasantly jocose. Sonny’s unwavering insistence on being funny produces very interesting by-play of reactions in the Quartet. Milt and Connie buckle down to some real, and great swinging–Milt especially in his own BAGS‘ GROOVE and Connie in A NIGHT IN TUNISIA. Percy occasionally joins the fun, as in BAGS‘ GROOVE, where he plays, for instance, a typical ‚ooom-pah‘ bass line which could be, except for its funky swing, straight out of some hotel band.

[…]

John’s reactions are more complex. In BAGS‘ GROOVE, when Rollins enters with humorously disjointed parodies of Milt’s theme, John prods him soberly with beautiful understated chords. After three choruses he realizes that Rollins will not be swayed, and ‚joins in‘ with little discordant semi-tome ‚bleeps,‘ which he later develops into a relentlessly building, insinuating rhythmic figure, which Sonny finally can no longer resist. He almost becomes serious for a few choruses, only to return eventually to the prevailing punning mood.“

Der Moment in „Bags‘ Groove“, in dem Lewis seine Begleitung quasi auf Anfang zurücksetzt, ist wirklich toll – hier kriegt man die Kommunikationsform Jazz vorgeführt – selbst in einem Standard-Blues, den alle einfach runterleiern könnten, bleibt nichts ohne Folge, ohne Reaktion, und die Reaktion führt dann unter Umständen zu einer Art Rückkoppelung. Rollins leiert hier wohl auch irgendwie ziemlich, man kann das „sardonic“ nennen und gut finden, aber kohärent ist hier wohl eher die Gesamtperformance, nicht sein Solo, das mehr schlecht als recht funktioniert. Jackson legte davor schon mit einem seiner tollen Blues-Soli vor, Lewis folgt und setzt einmal mehr ganz unten an, spielt sparsam, greift nun seinerseits das Lick aus dem Thema auf und variiert es – aber er wäre nicht John Lewis, käme dabei nicht ein Muster an Kohärenz heraus.

„A Night in Tunisia“ ist schneller und etwas kürzer, das Thema wird von Milt Jackson präsentiert, Rollins gesellt sich zur Begleitung und teilt sich das Interlude so halbwegs mit Jackson und hebt dann im Break zum ersten Solo an. Rollins‘ Solo finde auch hier nicht gerade überragend, aber allein sein Ton und seine Phrasierung, dieses „in Stein gemeisselte“ – das beeindruckt mich eigentlich immer. Jackson folgt, Kay kickt hier in der Tat ziemlich. Das ganze ist halt – wie so oft, wenn jemand in den ziemlich hermetischen MJQ-Raum vordringt – eher ein lockerer Jam, doch auf hohem Niveau.
 

1958-10 – SWF Studio, Baden-Baden

Auf der CD mit Aufnahmen des SWF und des SDR finden sich zum Abschluss drei Titel, die im Oktober 1958 im Studio eingespielt wurden – die zwei Standards „I Can’t Get Started“ und „Tenderly“ sowie „J.B. Blues“, natürlich Joachim-Ernst Berendt gewidmet. Berendt war es, der Jackson um ein Solo bat, dabei Coleman Hawkins‘ „Picasso“ erwähnend, wie Karl Lippegaus in seinem kurzen Begleittext schreibt. „I Can’t Get Started“ gehört hier zunächst Lewis, der es solo vorstellt, bevor Jackson und die Rhythmusgruppe einsetzen. Jackson setzt gleich zum Solo an, es entspinnt sich ein Dialog mit Lewis und nach drei Minuten ist das leider auch schon wieder vorbei. Es folgt, auch wieder drei Minuten kurz, Jacksons sehr schöne Solo-Version von „Tenderly“. Den Abschluss macht dann der funky „J.B. Blues“, der mit gut fünf Minuten etwas mehr Raum bietet. Nach einem Piano-Intro ist es auch Lewis, der sein Thema präsentiert. Jackson spielt dann das erste Solo, doch auch solistisch bleibt Lewis hier mit einem grossartigen Beitrag der Star.
 
Im September nahm Milt Jackson für Atlantic ein gutes Album mit Coleman Hawkins auf, „Bean Bags“ – mit Connie Kay am Schlagzeug. Im Oktober stand er mit Cannonball Adderley im Studio und ihr gemeinsames Album „Things Are Getting Better“ zählt meines Erachtens zu den Höhepunkten von beider Diskographie. Mit Wynton Kelly, Percy Heath und Art Blakey ist die Band rundum exzellent besetzt. Ein weiterer Glanzpunkt in Jacksons Disographie entstand nach Weihnachten noch, „Bags‘ Opus“ für United Artists, mit Benny Golson, Art Farmer, Tommy Flanagan (der schon auf dem Album mit Hawkins dabei war), Paul Chambers und Connie Kay. Im Januar 1959 folgten die Aufnahmen für „Bags and Trane“, das Album mit John Coltrane (mit Hank Jones, Chambers und Kay) … doch zum Jahr 1959 dann im nächsten Post, nach einer vermutlich längeren Pause.

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