Antwort auf: The Modern Jazz Quartet

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1957 – das Modern Jazz Quartet auf Atlantic und auf Europa-Tournee
 
Milt Jackson (vib), John Lewis (p), Percy Heath (b), Connie Kay (d)
 

1957-04-04 – New York
Atlantic

Bei einer Session am 4. April wurde nur ein einziges Stück zufriedenstellend abgeschlossen, „Venice“. Es erschien auf der später (vgl. 1957-08-24) abgeschlossenen LP „No Sun In Venice“. Alle anderen fünf Stücke der Suite werden als „rejected“ geführt, die Tapes sind aber beim grossen Brand bei Atlantic wie so viele verschwunden, man wird also nie erfahren, ob darunter nicht ein paar nette Alternate Takes gewesen wären. Man glaubte anscheinend länger, das ganze Album sei am 4. April eingespielt worden, doch das erwies sich – mit Ausnahme von „Venice“ eben – als falsch.

„Venice“ ist ein feines, kleines Stück – unprätentiös, schlicht, aber bezaubernd: John Lewis at his best. Dass er aus einem Film-Soundtrack stammt, erahnt man nicht gleich, aber dass er in einer Nachtclub-Szene eingesetzt wurde, in der es keine dramatische Entwicklung gab, passt natürlich gut. Lewis setzt die Stimmung mit einem unbegleiteten Intro, für das Thema und das anschliessende Solo übernimmt Jackson, Heath setzt den Beat, Kay variiert seine Begleitung (öffnet beim Wechsel zur Improvisation von Jackson seine Snare oder eher: wechselt an ein anderes Ride – natürlich wieder alles mit Besen und alles meisterhaft). Hier ist alles auf die Essenz reduziert, auch wenn Lewis gegen das Ende des Themas Läufe hinter das Vibraphon streut, die perlen – das muss genau so sein. Lewis‘ eigenes Klaviersolo ist dann einmal mehr ein Glanzpunkt.

Auszüge aus den Aufnahmen für den Film erscheinen in Europa auch auf EPs wie der obigen. „Sait-on jamais“ ist der Originaltitel des Filmes, für den Regisseur Roger Vadim zeichnete. Den Titel greift Lewis auch mit dem Stück „One Never Knows“ auf, aber die englische Fassung hiess „No Sun in Venice“. Es scheint sich um einen nicht sehr guten späten Noir mit Postkartenansichten aus Venedig zu handeln … Vadim halt – vielleicht kennt @vorgarten ihn und kann ein paar Sätze schreiben?
 

1957-04-05 – New York
Atlantic

Einen Tag nach dem ersten Versuch mit dem Material für „No Sun in Venice“ stand das MJQ bereits wieder im Studio. Das resultierende Album trägt schlicht den Titel „Modern Jazz Quartet“, auf der Originalausgabe war anscheinend auf dem Frontcover keinerlei Text zu finden (spätere Ausgaben kommen teils mit einem Rahmen, auf den der Bandname gedruckt wurde). Der Titel passt, denn es handelt sich um ein Album, das ganz auf das seit zwei Jahren – seit Connie Kay dabei war – live gespielte Repertoire. Mit „La Ronde: Drums“ („Two Bass Hit“ aber komplett als Feature für Kay, der sein überragendes Können mit den Besen demonstriert) und „A Night in Tunisia“ greifen die Stücke zurück bis in die Gillespie-Zeit. Es gibt alles in allem mehr ungehemmtes blowing und weniger strukturierte, organisierte Musik als sonst beim MJQ, was zur Abwechslung natürlich sehr gut kommt. Doug Ramsey zitiert Aussagen, die John Lewis gegenüber Nat Hentoff gemacht habe – vermutlich aus den Liner Notes:

John Lewis
I like this album because the selections are old in our repertoire, so that we’ve played them a great deal. They’re old enough for us to see if we can play, if we can really get out of them and out or ourselves what is there to be gotten. After haring the album, I feel that we can play.

This album is one of our characteristic 40-minute sets. That’s a long time to play and sustain interest and strenght. I feel we did it here. And the rhythm holds up all the way, another reason I like the set. The numbers also sound the way they actually do sound when we are at our best in a club or at a concert.“

Klar können sie spielen! Los geht es mit einem Medley aus Lieblingsstandards. Jackson spielt zuerst „They Say It’s Wonderful“, das Lewis am Klavier einleitet (ich kenne es natürlich primär von Coltrane) und wechselt dann bald schon über in „How Deep Is the Ocean“. Lewis brilliert in beiden mit seiner Begleitung, in „How Deep Is the Ocean“ verzahnen die beiden sich stellenweise in einen Dialog: Lewis soliert, während Jackson das Thema spielt, dann spielen sie beide, mal der eine, dann der andere mehr im Vordergrund. Lewis setzt schliesslich zu einem Klaviersolo an, in dem er das Thema etwas drosselt, mit sich selbst in einen Dialog zu treten scheint … schliesslich in „(I Don’t Stand) A Ghost of a Chance with You“ fällt, eins der Lieblingsstücke seines Bandleaders in den frühen Fünfzigern, Lester Young. Direkt nach der Themenpräsentation setzt Jackson dann zu „My Old Flame“ an und folgt mit einem tollen Solo. Dann leitet John Lewis sehr gekonnt über zu „Body and Soul“, das er dann zum Abschluss des zehnminütigen Medleys (das wirklich die Form einer sehr gekonnten Suite annimmt) fast alleine spielt.

Das folgende „Between the Devil and the Deep Blue Sea“ spielte die Gruppe schon 1951 (und nochmal 1952 mit Annie Ross) ein – die neue Version ist dieser frühen aber hoch überlegen und demonstriert eindrücklich, wie weit die Band seit damals gekommnen ist. Hier passt der Groove trotz des wieder recht gemütlichen Tempos perfekt. Jackson und Lewis umgarnen sich, Lewis spielt die Bridge, Heaths flexibler Beat funktioniert wie ein Trampolin (mit Netz), auf dem die beiden Solisten machen können, was sie wollen – es passt immer – das solistische Highlight setzt Lewis, aber es ist mal wieder der gemeinsame Groove des Quartetts, der hier am wichtigsten ist.

Es folgt das kurzen, oben schon angesprochene „La Ronde: Drums“ mit Kays toller Performance – das Stück ist gerade mal zwei Minuten lang, aber höchst dramatisch und als – begleitetes – Schlagzeugsolo wirklich gelungen. Intensität – gerade von Kay, aber nun mit Sticks – und Tempo bleiben auch in „A Night in Tunisia“ hoch, der unmittelbar folgenden zweiten Gillespie-Nummer – mit feiner Improvisation von Jackson und einem tollen reduziert-konzentrierten Beitrag von Lewis. Es folgt danach die Ballade „Yesterdays“, in der Jackson wieder einmal seine Meisterschaft als Balladenkünstler präsentieren kann. Lewis begleitet ihn auch im Solo, für das Gruppe ins doppelte Tempo wechselt, gekonnt zwischen Kontrapunktik und herkömmlichem – aber dennoch sehr Lewis’schem – comping. Und einmal mehr merkt man überhaupt nichts davon, falls Jackson sich irgendwie eingeengt fühlte. Jackson bleibt im Zentrum, denn es folgen zum Ausklang zwei Blues-Titel, sein „Bags‘ Groove“ sowie das gemeinsam mit Ray Brown geschriebene „Baden-Baden“.

„Bags‘ Groove“ ist eine meisterhafte Performance von allen im mittelschnellen Tempo. Hinter Jacksons Solo spielt Lewis eine feine Begleitung und folgt dann seinerseits mit einem grossartigen Solo. Kay kickt auch hier wieder, ohne je raumgreifend zu werden, während Heaths Walking-Linien genau den richtigen Ton treffen. Eine kleine arrangierte Passage führt zu einer Verdichtung und – scheinbaren – Beschleunigung, ein überraschender Klimax, aus dem hinaus die Themenreprise angesteuert wird – ein nahezu kathartischer Effekt. Das abschliessende „Baden-Baden“ ist ein gutes Stück schneller, Jackson legt wieder als erster los, die Becken von Kay decken hier ziemlich zu, aber Lewis‘ tolle Akkorde und Kays Punktierungen auf der Snare und die gelegentlichen Bombs der Bass-Drum sind dennoch gut zu hören. Lewis fällt auch hier hinter Jackson in Riffs, dieser scheint da oder dort auch direkt auf die Klavierbegleitung Bezug zu nehmen. Das Klaviersolo schält sich dann wieder nahtlos aus der Begleitung heraus, während die Rhythmusgruppe nicht das kleinste Bisschen herunterdreht. Doch Lewis lockt man so leicht nicht aus der Reserve, er bleibt auch hier nahezu stoisch und doch sehr agil – ein endlos faszinierender Pianist. Mit einem anderen Riff als Anfangs – und Jacksons Antworten darauf – endet das Stück.

Fazit: ein äusserst unprätentiöses, direktes Album, das den Fokus tatsächlich mehr auf dem blowing hat als fast alles MJQ-Alben – zur vorsichtigen Annäherung für Skeptiker gut geeignet – und auch für Fans wirklich gut.
 
Percy Heath war im Mai und Juni mit dabei, als Jackson in drei Sessions sein Atlantic-Album „Bags and Flutes“ aufnahm – die Flöte steuerte Frank Wess bzw. der Belgier Bobby Jaspar bei.
 

1957-08-24 – Music Inn, Lenox, MA
MJQ + Jimmy Giuffre (cl), Jim Hall (g), Ralph Peña (b)
Atlantic

Am 29. Juli ging das MJQ erneut ins Studio und versuchte sich – gemäss den verfügbaren Angaben – an vier der fünf noch fehlenden Stücken von „No Sun in Venice“ (nicht an „The Rose Truc“). Erfolgreich wurden die fünf Stücke dann im August im Music Inn in Lenox, MA eingespielt. Das Album wurde zu einem der Bestseller des MJQ, die Stücke fanden nach einer erfolgreichen Konzertpremiere in New York im Mai 1957 rasch Eingang ins Live-Repertoire der Gruppe – Martin Williams schrieb in seiner Besprechung für Down Beat, es handle sich um „a film score that ingeniously manages to be both effective in context and strong enough to stand on its own.“ (nach den Liner Notes von Doug Ramsey im Mosaic-Booklet).

Nach mehreren gescheiterten Anläufen im Studio gelang die Einspielung der meisten Stücke schliesslich im zweiten Sommer im Lenox Inn, wo Lewis inzwischen zum Leiter geworden war. Zu den Roundtable-Diskussionen kammen jetzt auch Kurse in Komposition/Arrangement für grosse und kleine Gruppen (Jim Hall, Bill Evans und Connie Kay gaben zum Beispiel gemeinsam einen Ensemble-Kurs), fortgeschrittene Instrumentalkurse und Möglichkeiten für die Studenten, aufzutreten (auch Don Cherry und Ornette Coleman tauchten da auf, ebenso Attila Zoller, alle als Studenten, möglicherweise einfach damit sie nichts bezahlen mussten … unter den Lehrern waren auch Max Roach und Dizzy Gillespie – es gibt ein paar wenige Aufnahmen, aber die Bootleg-CD damit liegt irgendwo tief vergraben).

Los geht es mit „The Golden Striker“, einem hübschen, dicht arrangierten Stück, das wieder auf diesen Fugen-Groove baut, dabei aber auffällig stark auf Heaths tiefen Bass baut. Inzwischen kriegt die Gruppe auch sowas hart swingend und zugleich sehr locker hin, kurze Soli von Jackson und Lewis aber auch von Kay, heftige Doppelschläge von dem Steh-Tom (oder sonst einer Trommel) strukturieren die Nummer, das ganze wirkt ziemlich spontan und vor allem trotz der eigenwilligen semi-klassischen Form ziemlich frei – hier sind wir in dem Gebiet angekommen, in dem keiner mehr heraushören kann, was eigentlich improvisiert und was komponiert ist. Die Stimmung dem „Barn“, dem umgebauten Schuppen im Music Inn, in dem auch Jimmy Giuffre ein paar schöne bzw. schön klingende Sachen aufgenommen hat, scheint sich tatsächlich irgendwie auf den Klang der Session niederzuschlagen. Weiter geht es dann mit „One Never Knows“, das mit über neun Minuten das Herzstück des Album ist, ein langsam swingende Nummer mit der üblichen Rollenverteilung und Suitencharakter – zwischendurch werden die Changes mal angehalten, es gibt Orgelpunkte und Teile, in denen die Gruppe in ein Rubato fällt. Das Kernmotiv des Stückes – wie auch jenes von „The Golden Striker“ und „The Rose Truc“ – ist dem Closer des Albums entnommen, „Three Windows“, in dem Lewis die drei Hauptfiguren des Filmes zu fassen sucht. Dieses Motiv zieht sich so durch den ganzen Soundtrack und gibt ihm gewissermassen eine klangliche Identität – in langsamen und raschem Tempo, in straightem 4/4-Swing und im MJQ-Barock-Groove. Den Abschluss der ersten Hälfte macht dann das groovende „The Rose Truc“, in dem Heath das Thema spielt, von Jackson und dann auch Lewis umspielt. Hinter Jacksons Solo spielt Heath weiterhin solistische Linien, bis Lewis dann auch einsetzt und Heath in einen Wakling wechselt. Kay treibt die Performance mit einem leichten aber doch ziemlich schweren Beat an, fängt irgendwann an, 2 und 4 auf der Snare zu markieren – das ist alles ziemlich plump aber wirkt doch tänzerisch und leicht. Das Outro wirkt dann etwas angepappt, vermutlich aus filmtechnischen Gründen.

Die zweite Hälfte öffnet mit „Cortege“ (Cortège, verdammt! Ignorantenpack!), Kay setzt auch hier den Triangel exzessiv ein – und doch, das nervt manchmal schon ganz gehörig, klingt einfach nur schrill und überdeckt zu stark, was Jackson und die anderen darunter machen. Lewis meinte zum Stück: „This is my Venice and that isn’t the same, perhaps, as what Raoul Levy [der Produzent] is trying to show in the movie. I love its commedia dell’arte and in my „Fontessa“ gave it musical expression. In seeing a colorful funeral procession on the Grand Canal, however, I can’t help but think of funerals in New Orleans, which are happy as well as sad, and that double image in my mind is undoubtedly reflected in my music“ (aus Gary Kramers Liner Notes, zitiert nach Doug Ramsey). Lewis spielt gegen Ende der über sieben Minuten langen Suite ein tolles Solo, bevor eine Art Begräbnismarsch das Stück beendet. Danach folgt das oben (1957-04-04) schon erwähnte „Venice“, und schliesslich endet die Platte mit „Three Windows“, quasi dem Kernstück – und wohl auch Krönung – des ganzen Albums. Hier fügen sich Swing und Barock perfekt zusammen, das Stück dauert einmal mehr um die sieben Minuten und swingt heftig, die Stimmen und die Rhythmen verzahnen sich aufs schönste. Alles in allem ist das Album in der Tat – gerade für einen Film-Soundtrack – sehr gut gelungen, aber an die besten MJQ-Alben reicht es nicht ganz heran.

Das Bild oben zeigt die erste EP mit Material vom Soundtrack (Katalog-Nummer 90 M 199, die obige in Pink trägt 90 M 200, 90 M 201 war dann hellgrün, wie es scheint … und die französische LP-Ausgabe dasselbe in hellblau).

Die beiden mit den Jimmy Giuffre 3 eingespielten Stücke – das zugehörige Cover folgt später – stammen von derselben Session (gemäss den Master-Nummern vom Anfang der Session) und erschienen auf der LP „Third Stream Music“, die das MJQ mit verschiedenen Gästen einspielte. Ich kenne bisher bloss die Tracks mit Giuffre, Hall und Peña, „Da Capo“ und Fine“, als Suite aufgenommen (sie sind mir seit vielen Jahren vom Mosaic-Set von Giuffre vertraut und auch als einzige im Mosaic-Set des MJQ enthalten), der Rest entstand mit anderen Zuzügern bei zwei späteren Sessions (1959-09-23 und 1960-01-15 bei der letzten Session für das MJQ-Album „Pyramid“) und kommt in einem späteren Post an die Reihe.

„Da Capo“, das erste der beiden Stücke mit Giuffres Trio – sie dauern zusammen knapp 10 Minuten und standen am Anfang der LP – präsentiert zwei Motive, die sich abwechseln. Das Vibraphon spielt nach dem Intro zunächst solo eine tänzerische kleine Figur, Giuffres Klarinette antwortet mit einer nachdenklichen Linie („pastoral“ nennt man das gerne – ich weiss eigentlich nicht, was ich mir darunter vorstellen soll, bei mir wird eher das Wort durch Giuffres Musik gefüllt…), daraus entwickelt sich nicht viel, aber mehr als bei der früheren Begegnung mit Giuffre im Music Inn. Hall stösst dazu, Jackson soliert ein wenig, Lewis begleitet, dann fallen die Saiteninstrumente wieder ein und es entsteht eine Art Groove („rural“ wäre das nächste Wörtchen, ich gebrauche es selbst gern, wenn es um Giuffre geht). „Fine“ ist dann in Rondoform gehalten, das Klavier präsentiert das Motiv, das danach in freier Form von Klarinette, Vibraphon, Gitarre, Bass und Percussion variiert wird (wer hier wann Bass spielt, höre ich nicht – ich glaube, es spielt nur – jeweils? – einer). Man will hier wohl wieder einmal zuviel – und was dabei herauskommt ist hübsch und mehr als beim ersten Treffen mit Giuffre, aber immer noch zuwenig.
 
Es war übrigens Lewis, der Jim Hall dazu brachte, nach New York zu ziehen – wo er denn da wohnen solle? Na, in der Wohnung von Lewis, der eh nie dort war … Miles Davis lebte anscheinend im gleichen Haus (just down the hall) und irgendwann kriegte Hall diese Zettel von Sonny Rollins im Briefkasten … und stiess schliesslich zu dessen Combo. Seine Westküsten-Credential waren ja bereits eindrücklich: Chico Hamilton Quintet, Jimmy Giuffre 3, Aufnahmen mit Bob Brookmeyer (der kam von Kansas City) und später – neben Rollins und für das damals gemeinsam Label der beiden Leader – auch noch mit Paul Desmond (das ging 1961 los, mit Rollins gab es 1962 die ersten Aufnahmen).
 
Wo wir hier beim – relative frühen – Third Stream sind: Lewis wirkte im März 1955 massgeblich bei der Entstehung des Verve-Albums „The Modern Jazz Society Presents a Concert of Contemporary Music“ mit, auf dem Lewis, Heath/Kay, sowie die Solisten Lucky Thompson, Tony Scott (noch als Anthony Sciacca), J.J. Johnson, Aaron Sachs und Stan Getz, zudem Gunther Schuller (der Mastermind hinter Third Stream) am Horn, Janet Putnam an der Harfe und zwei klassischen Bläsern (Flöte und Fagott) zu hören sind. Das Album funktioniert für meine Ohren sehr gut und das hat wohl nicht wenig mit Lewis‘ Klavierspiel und seinem Ideenreichtum als Komponist und Arrangeur zu tun – drei Stücke hat Lewis für das Album geschrieben (das oben schon bei der MJQ-Aufnahme erwähnte „Sun Dance“, zudem „Midsömmer“ und „Little David’s Fugue“, zwei ältere Lewis-Stücke („Django“ und „The Queen’s Fancy“) hat Schuller neu arrangiert.

Im Juni und Oktober 1956 folgten die Aufnahmen für das Columbia-Album „The Birth of Third Stream“, das Musik von Schuller, Lewis, Giuffre und J.J. Johnson enthält. Lewis‘ Beitrag heisst „Three Little Feelings“ und als Solisten an der Trompete und am Flügelhorn (sein Plattendebut auf dem Instrument) hören wir niemand geringeren als Miles Davis (der auf Johnsons „Poem for Brass“ neben Joe Wilder ebenfalls zu hören ist, für Schullers „Symphony for Brass and Percussion“ holte man rasch Dimitri Mitropoulos ins Studio, die anderen Werke dirigierte jeweils Schuller).
 
Am 12. September 1957 ging Milt Jackson mit einem der grossen Stars von Atlantic ins Studio, Ray Charles – das gemeinsame Album heisst „Soul Brrothers“, Charles greift darauf auch zum Altsaxophon und Jackson spielt neben Vibraphon und Klavier auch mal die Gitarre. Unbedingt hörenswert, ebenso wie ihr zweites Album von 1958. Percy Heath war auch hier wieder mit dabei, ebenso wie Connie Kay, der ja für Atlantic wie erwähnt schon bei vielen R & B-Sessions getrommelt hatte.
 

1957-10-19 – Opera House, Chicago, IL
Verve

Im Jahr 1957 brachte Norman Granz auf seinem Label Verve eine ganze Reihe von Alben heraus, die „At the Opera House“ hiessen und in der Chicago Opera, dem Civic Opera House ebenfalls in Chicago sowie dem Shrine Auditorium in Los Angeles aufgenommen wurden. Die Konzerte liefen wohl unter dem Banner von „Jazz at the Philharmonic“, der Konzertserie, mit der Granz 1944 begann, den Jazz in die grossen Konzertsäle der USA – und später auch Europas – zu bringen, in denen er auf nicht-segregierten Zuschauerräumen bestand – und damit mehr als nur eine Schranke niederriss.

Das MJQ teilte sich seine Verve-LP „At the Opera House“ mit dem Trio von Oscar Peterson (in dem Ray Brown am Bass zu hören war, der ursprüngliche Bassist der einstigen Gillespie-Rhythmusgruppe). Wir hören vom MJQ nur um die zwölf Minuten, in denen drei kürzere Stücke Platz finden. Nach einer kurzen Bandpräsentation von Norman Granz geht es mit dem „D and E Blues“ los, in dem Jackson und Lewis tolle Blues-Soli spielen – so direkt und gerade heraus ist das ganze Set, vielleicht, so mutmasst Alun Morgan in seinen Liner Notes, habe Lewis die Vibes in Chicago gespürt und sich für einen solchen Auftritt entschieden, nicht einen, in dem „Midsömmer“ oder „Fontessa“ erklingen. Weiter geht es dann mit „Now’s the Time“, in langsamem Tempo – und das kommt gut. Heaths Bass grummelt (die Qualität der Aufnahme zumindest im Avid-Set, in dem ich sie habe, ist sehr mittelprächtig), Kay verschwindet immer wieder fast ganz im Mix – aber das nichts, denn Jackson und Lewis sind einmal mehr in Laune, den Blues zu spielen. Irgendwann gegen Mitte sind auch Bass und Drums ganz gut zu hören, Kay an den Sticks – und das „Ding Ding Ding“ auf dem Ride klingt in der Tat mal wieder grossartig. Den Ausklang macht dann eine schöne Version von Monks Ballade „‚Round Midnight“.

„D and E Blues“ stammt von der ersten Savoy-Session, „Round Midnight“ von der zweiten, letzteres hatte die Band auch in Newport gespielt, eine Atlantic-Version von „Now’s the Time“ von 1958 ist verloren, es gibt keine weitere vom MJQ.

Auch diese Aufnahme gab es natürlich im EP-Format – die obige stammt gemäss Discogs aus den Niederlanden.
 

1957-10-27 – Donaueschingen
MPS

Acht Tage nach dem mitgeschnittenen Auftritt aus Chicago trat das MJQ in Donaueschingen auf – Seite 2 der obigen Pausa/MPS-LP präsentiert vier Stücke. Ich kenne die Aufnahme allerdings nicht. Auf der LP sind zu hören: „Three Windows“, „The Golden Striker“, „Cortege“ und „J.B. Blues“ (Joachim [Ernst] Berendt?), auf einem italienischen Bootleg erschienen dieselben Stücke sowie „The Rose Truc“, zusammen mit drei am 19. Januar 1958 in San Remo mitgeschnittenen Stücken („I’ll Remember April“, „A Night In Tunisia“ und „Django“). Das Cover oben ist gemäss Discogs jenes der Japan-Ausgabe – mit dem MJQ auf dem Cover. Die deutsche bzw. die europäischen Ausgaben sahen etwas weniger hübsch aus (klick).
 

1957-10-28 – NDR Studio, Hannover

Im Oktober und November 1957 tourte das MJQ wieder in Europa – diesmal sind etwas mehr Aufnahmen vorhanden (ich habe bisher noch nicht nach unveröffentlichtem/zirkulierenden Material gesucht, das auch noch herumschwirrt, bin nicht sicher, ob es das schon von so früh gibt oder erst aus den Sechzigern). Bei Moosicus erschien 2013 als Teil der „NDR 60 Years Jazz Edition“ eine CD mit einer halben Stunde aus Hannover, in der ein Teil des Konzertes im Beethoven-Saal nachgestellt wurde – hübsche Aufmachung, viele Photos, ein ansprechender Text im Booklet (Martin Laurentius – aber ARD-Studioaufnahmen gab es doch schon 1956 beim SDR, siehe oben, oder war der SDR nicht Teil der ARD? Laurentius schreibt, die Aufnahme aus Hannover sie die erste – sie ist klanglich nicht ganz so toll wie jene vom SDR). Aber leider ist die CD schon gar kurz geraten (angesichts der unzähligen Schätze allein aus all den NDR Jazzworkshops schade, dass man nicht noch etwas passendes dazugesellen mochte). Los geht es mit „Vendome“ (auch da fehlt natürlich immer ein Akzent) – nach dem ersten Stück, in dem schön der Kontrast zwischen feinziseliertem und zupackendem Spiel deutlich wird, verknurrt ein grummliger, kaum des Englischen mächtigen Typ Lewis dazu, die gespielten Stücke kurz zu erläutern … Es geht dann mit „Venice“ weiter, dem zauberhaften Tongemälde, das eben in „Sait-on jamais“ in einer Nachtclubszene als Hintergrundmusik lief. Die Ansagen muss Lewis dann ein paar Mal ansetzen, irgendwie witzig, dass man die bei der CD komplett drinliess, eben inkl. Anweisungen des Produzenten. Es gibt hier auch zupackende Stücke wie „All the Things You Are“ und „Bluesology“, daneben ein Balladen-Medley mit Vernon Dukes „Autumn in New York“ und Joe Myrows „Autumn Nocturne“, zum Ausklang dann mit „The Golden Striker“ noch ein Ausschnitt aus dem Soundtrack zu „Sait-on jamais“. Ein schönes kurzes Set, das die ganze Bandbreite der Band dokumentiert (im Gegensatz zu jenem aus Chicago oben).
 

1957-11-07 – Gürzenich, Köln

Ein paar Tage später trat das MJQ im Gürzenich in Köln auf, das Konzert erschien 2011 bei Delta in Zusammenarbeit mit WDR/Jazzline in der unverkennbar hässlichen Aufmachung dieser Reihe, die – im Gegensatz zu den Reihen von NDR und SWR weiterhin recht rasch wächst (bei SWR ist noch nicht dichtgemacht worden, wie jüngst die Caterina Valente-CD zeigt, letztes Jahr gab es u.a. eine Mangelsdorff-Doppel-CD, bei NDR kam man über die vier ersten CDs von 2013 leider nicht heraus). Die Laufzeit der CD ist diesmal grosszügig bemessen, die Liner Notes stammen von Karsten Mützelfeldt. Dieser erwähnt, wie das MJQ in Europa sofort Erfolg hatte, während viele in den USA es noch misstrauisch beäugten. Er erwähnt ferner den Auftritt in Baden-Baden 1956 mit Miles Davis und Kurt Edelhagen und die Auftritte mit Davis, Lester Young und Bud Powell. Letzterer war 1956 nicht in seiner besten Verfassung und Mützelfeldt zitiert Dieter Zimmerle (den Gründer/Herausgeber von Jazz Podium): „Wenn es jemandem gelingen konnte, die nach Powells Auftritt spürbare Bedrückung wieder aufzuheben, so waren es die vier Musiker, die danach in des Wortes echtester Bedeutung konzertierten.“ In Europa kam gerade der „anständige“ Charakter, das dufte Erscheinungsbild der Musik wie auch der kontrollierte Charakter ihrer Musik gut an. Doch – das darf man nicht vergessen – waren Lewis‘ Arrangements auch ein Weg aus dem ausgelatschten Trott des Thema-Solo-Solo-Thema-Schemas, das ja heute im Jazz immer noch die Regel ist. Es bot andere Wege, in denen Komposition und Improvisation – manchmal äusserst spontan, wenn Lewis z.B. die Eingangsphrase von Jacksons Solo nutzt, um daraus eine Art Kanon-Begleitung hinter dem Rest des Solos zu gestalten (so zu hören in der Hannoveraner Aufnahme in „Vendome“, dem ersten Stück). Mützelfeldt erwähnt zudem die damals offen geführte Diskussion über die Orte, an denen die Gruppe auftreten wollte. Im Gegensatz zur Tour 1956 bestand Lewis auf kleineren, sonst vor allem der Kammermusik gewidmeten Sälen. Im Gürzenich hatte 1956 das erste Jazzkonzert stattgefunden – mit dem Ensemble von Harald Banter, der auch auf den SDR-Aufnahmen von 1956 zu hören ist (Mützelfeldts Text suggeriert, dass dort ev. das Jahr falsch sein könnte – wenn die Aufnahmen von 1957 sind, dann wäre auch das Statement von Laurentius zur ersten ARD-Aufnahme in Hannover korrekt – keine Ahnung, da müsste man wohl Zugang zu den SWR-Archiven und zu Presseberichten der damaligen Zeit haben, aber aufgrund der Kopien aus dem SWR-Archiv, die ich zu sehen bekam, gehe ich davon aus, dass dort korrekt gearbeitet wird). Das Düsseldorfer Blatt Spätausgabe, so Mützelfeldt weiter, schrieb über Auftritt des Banter-Ensembles: „Jazz gesellschaftsfähig“. Die Dimension des Bürgerschrecks ist bei einer Gruppe wie dem MJQ tatsächlich nicht mehr gegeben (in Berlin wurde das MJQ dafür 1965 dann von der Bühne gebuht), aber das wiederum ist eine Diskussion für sich.

Die über siebzig Minuten aus dem Gürzenich öffnen mit „The Queen’s Fancy“, weiter geht es mit „Bess, Oh Where’s My Bess“ und danach dem ersten von vier Auszügen aus dem Soundtrack zu „Sait-on jamais“, „Three Windows“. Die anderen Stücke daraus sin „One Never Knows“ und ganz zum Ende der CD „Venice“ und „The Golden Striker“. Dazwischen gibt es „God Rest ‚Ye Merry, Gentlemen“, „Bluesology“, „A Night in Tunisia“, „Fontessa“ (diesmal also doch – das Ding live durchzuziehen ist wohl auch für Musiker dieses Kalibers keine einfache Sache), „Woody’n You“ und „Two Degrees East, Three Degrees West“. Alles in allem ein guter Mix aus Barock (und mehr), Balladen, Blues, aus elaborierten Stücken und zupackenden Swingern. Die Aufnahmequalität ist für einen Live-Mitschnitt sehr gut, vielleicht manchmal etwas basslastig. Das Konzert gefällt mir sehr gut; es liegt ja im Jazz auch bei einer so repertoirelastigen Gruppe wie dem MJQ immer eine rechte Distanz zwischen den Studio-Produktionen, die gerade bei Atlantic wirklich als Alben konzipiert werden, und dem Konzert, in de auf Stimmungen im Saal eingegangen werden kann, der im Vorhinein bestimmte Weg (so es den überhaupt gibt) auch mal verändert werden kann.
 

1957-11-10 – Jahnhalle, Pforzheim

Auch in Süddeutschland war das MJQ wieder unterwegs und auf der bereits im Post über die Aufnahmen von 1955/56 erwähnten CD von Jazzhaus finden sich zwei Stücke vom Konzert, das das MJQ damals in der Jahnhalle in Pforzheim gab, „Sun Dance“ und „Cortège“ (für einmal dankenswerterweise mit dem accent grave geschrieben, merci bien). „Sun Dance“ ist einmal mehr super, Jackson soliert, während Lewis begleitet und aus den Riffs gleich sein Solo bildet. In „Cortège“ ist der Triangel da, aber völlig ohne zu übersteuern. Schade gibt es von diesem Auftritt bloss zwei Titel zu hören.

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